Mindestens 25 Grad war eigentlich die Grundbedingung für mein nächstes Reiseziel. Nach leichtem Schneefall in Stuttgart und Schmuddelwetter in Hamburg hat sich dann aber einiges relativiert und so bin ich seit Freitag in Krakau. Schon mein lieber Professor Mincke in Göttingen schwärmte vor 25 Jahren von der Stadt und wem immer ich sagte, dass ich hinfliege, der war zwar noch nicht da, kannte aber irgendjemand, der schon hier und hinterher begeistert war.
Ich habe eine kleine Wohnung am Rande des In-Viertels Kazimierz. Das Apartment ist bezeichnend für das, was ich von Krakau bisher gesehen habe – ein verfallenes Haus mit einem gruselig-heruntergekommenen Treppenhaus, doch sobald man die Wohnungstür öffnet, ist alles gut: frisch renoviert, stylisch und mit allen Bequemlichkeiten. Und vor allem mit einem riesigen Kachelofen, der mich zum Schwitzen bringt – alles besser als diese blöde Kälte.
Um die Ecke liegen unzählige Cafés und Restaurants, von denen viele dem Prinzip meines Hauses folgen – außen pfui, innen hui. Kazimierz ist das ehemalige jüdische Viertel der Stadt, wobei man das „ehemalig“ irgendwann wahrscheinlich streichen kann. Restaurierte Synagogen an jeder Ecke, Restaurants mit klassisch-jüdischem Essen und traditioneller Klezmer-Musik, daneben hippe Bars mit israelischen Tapas und hebräischem Rap – hier tobt die Szene. Von den einen kritisiert als jüdisches Disneyland ist dieser Ort für mich voller Optimismus und Leben. So könnte es an vielen Stellen in Europa aussehen, wenn es den Holocaust nicht gegeben hätte. Für die vielen israelische Touristen ist es wahrscheinlich eine neue und schöne Erfahrung, dass an einem jüdisch geprägten Ort in Polen nicht der Tod sondern das Leben im Vordergrund steht.
Die Alte Synagoge bildet das Zentrum von Kazimierz, sie wird heute als beeindruckendes Museum des jüdischen Lebens in Krakau genutzt. In der Izaak-Synagoge erlebe ich ein wunderbares Klezmer-Konzert, die Kupa-Synagoge mit ihrer bunten Decke ist heute wieder als Gotteshaus voll in Betrieb. Im gemütlichen Café Cheder wird der schwarze Kaffee mit Kardamom in orientalischen Kännchen serviert. Und an jeder Ecke wird die jüdische Kultur zelebriert und gefeiert – ohne die sonst übliche Polizeibewachung und nationenübergreifend, denn Kazimierz ist eine der Hauptattraktionen der Stadt.
25% der Krakauer waren Juden und prägten die Stadt über Jahrhunderte bis die Deutschen 1939 in Polen einmarschierten. Die jüdische Bevölkerung musste 1941 ihre Häuser in Kazimierz räumen und in das Ghetto Podgorze auf der anderen Weichselseite übersiedeln – in eine drangvolle Enge, katastrophale hygienische Verhältnisse, eines Großteils ihres Besitzes beraubt. Der Stadteil Podgorze wird heute durch seinen günstigen Wohnraum in den heruntergekommenen Häusern zum Studentenviertel. Aber obwohl man vom früheren Ghetto nicht mehr viel sieht, scheint der Horror immer noch durch die Straßen zu wabern. Auf dem großen Platz, auf dem früher Selektionen und Appelle stattfanden, stehen 70 überdimensionierte Stühle als Symbol dafür, was die Deportierten hinterlassen hatten. Die Apotheke an der Ecke des Platzes enthält ein beeidnruckendes Museum – der Apotheker war der einzige Nichtjude im Ghetto, er schmuggelte Nachrichten nach draußen, bewahrte Wertgegenstände für die Ghettobewohner auf. Podgorze ist ein furchtbarer Ort, der lebendige Optimismus von Kazimierz ist hier nicht zu spüren. Alles wirkt für mich noch um so bedrückender, weil ich gerade „Das Mädchen im roten Mantel“ von Roma Ligocka lese, die ihre Kindheit im Ghetto verbrachte.
Über die Straße gelangt man zur Fabrik von Oskar Schindler, die heute ein weiteres beeindruckendes Museum enthält. Dargestellt wird die komplette deutsche Besatzungszeit, nicht nur die Vorgänge um „Schindlers Liste“. Das sehr aufwändig gestaltete Museum musste sich ebenfalls den Vorwurf der Disneysierung gefallen lassen, die vielen Nachbauten Krakauer Straßenszenen trugen sicherlich dazu bei, aber hier wird in sehr anschaulicher Art Interesse und Betroffenheit erzeugt. Die Ausstellung ist riesig und voller Besuchergruppen, nicht immer bleibt Zeit und Gelegenheit, die vielen Exponate auf sich wirken zu lassen, aber irgendwann habe ich sowieso genug. Was die Deutschen nicht nur den Juden, sondern allen Krakauern angetan haben, die brutalen Perversionen, die mit Namen wie Amon Göth oder Hans Frank verbunden sind – die Stadt hat so sehr gelitten. In Mauritius oder Laos sagten mir die Menschen häufig, Deutschland sei das beste Land auf der Welt. Hier bin ich wieder mal an einem Ort, an dem ich mich fast schäme, die ausgehängten Plakate im Original lesen zu können. Froh bin ich, als am Ende der Ausstellung das Leben und die Taten von Oskar Schindler geschildert werden. „Schindler zeigt uns, dass jeder Deutsche damals eine Wahl hatte.“, sagt die Museumsführerin zu der Gruppe hinter mir. Ein großes Thema, zu dem ich mir wahrscheinlich nie eine abschließende Meinung bilden werde, aber wieder was zum Nachdenken. Und ein Ansporn, in meiner Ahnenforschung noch tiefer zu graben.
Nach diesen bewegenden Eindrücken muss ich zurück nach Kazimierz, einem Ort des Triumphes. Ihr habt es nicht geschafft, die jüdische Kultur und ihre Menschen auszurotten. Ihr habt eure Taten nicht geheim halten können. Und ihr habt dafür keine Anerkennung, sondern abgrundtiefe Verachtung geerntet. In Krakau liegen Trauer und Hoffnung nah beieinander.
Es gibt noch so viel zu entdecken in dieser Stadt. Die Altstadt, die Wawel-Burg, die Kirchen und Klöster und die hervorragende Küche. Aber davon später mehr.