Mein erster Urlaub nach der großen Reise sollte gleich drei Wünsche auf einmal erfüllen: eine neue Stadt kennenlernen, der lieben Coco ins neue Lebensjahr verhelfen und meine Ahnungsforschungsgelüste befriedigen. Alles zusammen an einem Ort geht nur beim Überraschungsei, also erst Neapel, dann Hamburg und zuletzt Magdeburg. Und mit jedem Kilometer sanken die Temperaturen….
Neapel verabschiedete uns mit Schnee. Nicht viel, aber genug, um den Flugplan komplett auf den Kopf zu stellen. Mit einstündiger Verspätung saßen wir in der Maschine nach Brüssel – Umsteigezeit 45 Minuten. Ich sah uns schon mit Muscheln und Pommes auf dem Grote Markt ohne Jonathan auf Cocos Geburtstag anstoßen, als die freundliche Stewardess uns eröffnete, dass unser Flugzeug genau das sei, das für den Weiterflug nach Hamburg vorgesehen wäre. Also alles gut.
Den Geburtstagsmitternachtssekt gab’s wie geplant im schönen Norden und obendrauf dann einen Geburtstagsmorgenspaziergang im Winterwonderland – dem idyllisch verschneiten Alstertal. Kalt natürlich, aber eben winterschneekalt unter strahlend blauem Himmel. Und nichts gegen die Arktis, in die ich mich dann aufmachte.
Eine Direktverbindung Hamburg – Magdeburg gibt es nicht. Ist ja jetzt nicht so ungewöhnlich, aber als ich dann auf dem Bahnhof von Wittenberge feststellte, dass es ab hier mit der S-Bahn weiterging, war ich doch überrascht. Magdeburg ist ja immerhin die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt. Aber egal, die Bahn war warm und mit erstaunlich gutem WLAN ausgestattet, und so bekam ich ja noch mehr zu sehen, vom Osten.
Meine Mutter wurde in Magdeburg geboren. Wirklich viel davon gesehen hat sie aber sicherlich nicht, sie kam 1941 mitten im Krieg auf die Welt. Der Stempel auf ihrer Geburtsurkunde trägt ein Hakenkreuz und vor den großen Luftangriffen auf Magdeburg flüchtete die Familie aufs Land. Da war meine Mutter wahrscheinlich drei oder vier Jahre alt. Am 16. Januar 1945 wurde Magdeburg von britischen Bombern zerstört. Der Angriff wird als einer der verheerendsten Luftangriffe auf eine deutsche Stadt bezeichnet. Die Altstadt brannte mehrere Tage und für meine Großeltern gab es nichts mehr, wohin sie hätten zurück kehren können.
Das alte Magdeburg hat sich städtebaulich von dieser Zerstörung nie mehr erholt. Was die Bomben übrig gelassen hatten, fiel erst dem Sozialismus und später dem Kapitalismus zum Opfer. Der Breite Weg, früher eine der schönsten Barockstraßen Deutschlands, ist heute gesäumt von gesichtlosen Einkaufszentren und umgestalteten Plattenbauten. Alles auf den ersten Blick nicht so ganz das Ambiente für eine atmosphärische Familienforschung.
Also erst mal raus auf’s Land. Nach der Evakuierung aus Magdeburg ließ sich die Familie Werner – meine Großeltern, meine Mutter und meine zwei Tanten – in Haldensleben nieder, einem kleinen Städtchen mit etwa 20.000 Einwohnern, 30 km von Magdeburg entfernt. Die Eltern meiner Großmutter lebten dort, Georg Werneburg war der städtische Gendarm. Das Wohnhaus am Holzmarkt steht heute noch, so wie fast alles in Haldensleben. Ein freundliches kleines Städtchen und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, ein idealer Ort für eine Radtour am Bördekanal oder einen langen Spaziergang durch die platte Landschaft. Und zu Kriegsende sicherlich ein wesentlich besserer Ort als das zertrümmerte Magdeburg.
Die Familie Werner schien noch einigermaßen glimpflich durch den Krieg gekommen zu sein – nur Rudolf, der Bruder meiner Großmutter, blieb vermisst und wurde 1949 für tot erklärt. Die Zeichen standen auf Neuanfang, da nahm sich mein Urgroßvater Georg Werneburg, Gendarm im Ruhestand, am 16. Oktober 1945 das Leben. Kopfschuss steht in der Sterbeurkunde und wie so vieles wurde sein Tod in meiner Familie nie thematisiert. Die massenhaften Selbstmorde am Ende des zweiten Weltkrieges wurden erst vor ein paar Jahren öffentlich aufgearbeitet. „Kind, versprich mir, dass Du Dich erschießt“ heißt das Buch von Florian Huber, das den „Untergang der kleinen Leute“, so der Untertitel, schildert. Die Angst vor Deportation und Vergewaltigung war eine Ursache, aber auch die Verzweiflung darüber, dass alles, woran man geglaubt hatte, untergegangen war. Und auch die Angst davor, vom neuen System für die Verbrechen des alten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Was auf meinen Urgroßvater, den Polizisten, zutraf, weiß ich nicht. Ich bezweifele auch, dass ich es jemals erfahren werde. Georg Werneburg hat in den Archiven wenig Spuren hinterlassen. Das lässt natürlich Raum für Fantasie, gerade angesichts seines Berufes.
Trotz dieser Tragödie fasste die Familie Werner schnell Fuß in Haldensleben. Mein Opa eröffnete ein 1946 ein Büro für Buchprüfungen und übernahm kurz darauf die Geschäftsführung eines Düngemittelbetriebes. Anfang der 50er Jahre aber hatten sie sich entschieden – sie wollten weg, in den Westen. Die Flucht war gut vorbereitet, mein Opa kaufte noch rasch zwei Grundstücke, sogar einige Möbelstücke nahmen sie mit und am vornehmen Osterdeich in Bremen begannen sie zum dritten Mal ein neues Leben.
Zu Lebzeiten meiner Verwandten habe ich nie nachgefragt, woher sie kamen und wer noch alles zu ihnen gehört hat. Magdeburg schien damals weiter entfernt und schwerer erreichbar als Australien. Es gab sie, die Ostverwandtschaft, an die ich als Kind die Pakete auf die Post trug, aber ich dachte, Tante Annelise aus Plauen mit ihrer Familie sei die einzige gewesen. Dass meine Großmutter noch zwei Geschwister im Osten hatte, ihre Mutter und die meines Opas erst Jahre später dort starben, weiß ich erst seit kurzem. Die Trennung von ihrer Familie war für meine Großeltern endgültig – so weit ich weiß, wurde ihnen nie wieder die Einreise in die DDR erlaubt. Schon unglaublich, dass ich heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, einfach so durch Haldensleben laufen kann, vorbei an ihrem Wohnhaus, um die Ecke vom früheren Büro meines Opas. Zumindest in Haldensleben, wo sich die Altstadt kaum verändert hat, kommt trotz der eisigen Kälte ein wohliges Gefühl auf.
In Magdeburg hat die Sentimentalität wenig Chancen. Selbst jemand, der zu DDR-Zeiten hier gelebt hat, wird seine Stadt nicht überall wieder erkennen. Und da es sowieso viel zu kalt ist, um durch die Straßen zu laufen, verbringe ich die Zeit lieber in gut geheizten Archiven bei sehr freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeitern. Im Stadtarchiv wühle ich mich durch alte Adressbücher und stelle fest, dass mein Opa, für mich immer Kaufmann durch und durch, sein Berufsleben zunächst als Finanzbeamter startete. Solche Brüche scheinen sich durch sein Leben gezogen zu haben – vom 300-Seelendorf in Sachsen über die Großstadt Magdeburg zurück in die ländliche Idylle und dann hinein in die Ungewissheit des Westens, die sichere Beamtenlaufbahn gegen verschiedene Posten als Kaufmann getauscht. Prokurist im Sudenburger Brauhaus war er und kurz bevor ich Magdeburg wieder verlasse, zwar mit vielen Ausdrucken aus den Archiven, aber nur wenigen Bildern im Kopf, finde ich es dann doch noch einen kurzen Eindruck vom Magdeburger Leben meiner Familie. Vor der Kälte fliehe ich in einen Edeka am Breiten Weg. Vor 1945 war hier die Katharinenkirche, Teile ihres Portals stehen eingequetscht von klobigen Neubauten. Im Hauseingang des Supermarktes sind Bilder aufgehängt, Magdeburg vor der Zerstörung. Der Breite Weg, so wie er vor 1945 ausgesehen hat. Das Bild eines Lokals, „Korte’s Bierausschank“, davor eine Brauereikutsche mit zwei Pferden, unter der Ladefläche ist ein Schild angebracht „Sudenburger Brauhaus“. In Gedanken sehe ich meinen Großvater am Fenster der Brauerei stehen, jemand ruft zu ihm herauf „Fünf Fässer Helles für Korte“, lachend prostet er mit einem frisch gezapften Sudenburger Pils zurück – ne, so kitschig war es garantiert nicht. Dem alten Werbespruch „und nach der Arbeit trinken wir das gute Sudenburger Bier“ folgend, genehmige ich mir am Abend ein Gläschen und stoße auf Opa an.
Das war also der genealogische Teil meiner Kurzreise. Touristisch hat mich die Kälte ziemlich lahm gelegt. Ein kurzer Gang zum Dom, dem ältesten gotischen Bauwerk in Deutschland, ein fröstelnder Bummel über den Domplatz hinunter zur eisschollenbedeckten Elbe, ein bibbernder Besuch des alten Marktplatzes, ein Kaffee im Hundertwasserhaus – mehr hat bei der eisigen Kälte keinen Spaß gemacht. Eine Stadt ohne echte Altstadt, aber sicherlich mit Flair, wenn es 30 Grad mehr hat. Jetzt nicht unbedingt ein touristisches Highlight, aber ein paar Tage kann man hier schon verbringen. Auf dem Weg in die Archive komme ich auch durch Stadtteile, die andere Eindrücke vermitteln und Lust auf Entdeckungen machen. Die Magdeburger Neustadt mit ihrem wunderhübschen, aber leider vollkommen verwahrlosten Backstein-Bahnhof scheint eher auf dem absteigenden Ast zu sein, Stadtfeld dagegen ist ein spannender Mix aus toll renovierten Gründerzeithäusern und DDR-Plattenbauten. Ich werde noch mal her kommen, wenn es viel viel wärmer ist und ich die vielen vielen Ausdrucke aus den Kirchenbüchern ausgewertet habe. Eine neue Spur scheint nach Greiz in Thüringen zu führen. Ich freu mich schon heute auf einen neuen Ort und bin gespannt, wo mich meine Vorfahren noch so hinführen werden.
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