Die Suwalki-Lücke – diese einhundert Kilometer zwischen Belarus und Kaliningrad kannte bis vor ein paar Monaten noch kaum jemand. Jetzt ist die Grenze zwischen Polen und Litauen in aller Munde, kriegsgefährlich sei es hier. Besonders seit Litauen es beim Transitzugverkehr nach Kaliningrad Ernst nimmt mit den Sanktionen. Die EU ist zwar eingeknickt und Litauen hält sich offiziell daran, es schwelt aber weiter.
Dass die idyllische Landschaft als derzeit gefährlichster Ort der Welt bezeichnet wird, höre ich das erste Mal von meiner Wirtin im besonders idyllischen Krasnogruda. Natürlich lese ich Zeitung und informiere mich ganz besonders über den Krieg. Aber der gefährlichste Ort der Welt, da glauben sowohl meine Wirtin als auch ich dann doch ganz fest an die Macht und Abschreckung der Nato. Ihr ganz unpolitisches Problem ist eher, dass die Gäste wegbleiben. Für mich ein Glück, denn die ehemalige Schule, in der ich die zweite Klasse bewohne, ist ein ganz wunderbarer Ort mit ein bisschen Jugendherbergsfeeling. Ein herrlicher Platz, um Stunden in einem der vielen Sofas drinnen im Wohnzimmer oder draußen auf der Terrasse zu versinken. Oder für wunderbare Spaziergänge, vorbei an Wiesen voller Kühen und schönen Seen. Oder für ganz erstaunliche Entdeckungen in der benachbarten Kleinstadt Sejny.
Ich bin in Podlachien. Allein schon die Tatsache, dass die Gegend auch einen litauischen, belarussischen und ukrainischen Namen hat, zeigt, dass das hier Grenzland ist und immer schon war. Mein Handy springt ständig eine Stunde vor und zurück, je nachdem, ob es sich ins polnische oder litauische Netzwerk einwählt. Im kleinen Sejny gibt es ein litauisches Konsulat und auf der Straße sieht man Autos mit dem Länderkennzeichen BY für Belarus.
Warum bin ich hier? Ganz sicher nicht, um Katastrophentourismus zu betreiben. Wäre auch die falsche Gegend, die Landschaft friedlich und idyllisch, die Menschen geprägt vom multikulturellen Erbe. Der Plan, die Ostsee zu umrunden von Deutschland über Polen und das Baltikum bis nach Skandinavien, den habe ich schon eine Weile. Und an dem halte ich so lange fest, wie es sich gut anfühlt. Das hier ist Europa und in Litauen werde ich noch merken, wie wichtig es den Menschen ist, freie Europäerinnen und Europäer zu sein. Und welchen Wert dieses Land und seine Menschen für ein freies Europa haben. Aber davon später mehr. Jedenfalls bin ich zunächst einmal hier, weil es keinen anderen Landweg nach Litauen gibt.
Das eigentlich recht verschlafene Sejny ist eine ganz erstaunliche kleine Stadt. Und das liegt am großen Engagement der Bürgerinnen und Bürger, die die Bedeutung einer multikulturellen Gesellschaft erkannt haben. Besonders sichtbar wird dies an der „Weißen Synagoge“ im Zentrum der Stadt. Sejny hatte eine große jüdische Gemeinde, die von den Nazis ausradiert wurde. Dank umfangreicher Restaurierungsarbeiten sind die Spuren jüdischen Lebens wieder sichtbar. Am beeindruckendsten ist die Wiederbelebung jüdischer Kultur durch ein Orchester mit dem sperrigen Namen „Orkiestra Klezmerska Teatru Sejnenskiego“. Die Ankündigung für ein Konzert in der Weißen Synagoge hängt an der Tür meiner Unterkunft, ich bin neugierig und fahre einfach mal hin. Vor der Synagoge hat sich bereits ein Publikum versammelt, das ich in dieser Kleinstadt nicht vermutet hätte – die würden alle auch gut in den hippen Stuttgarter Westen passen. Die Synagoge ist säkularisiert und dient heute als Kulturzentrum. Das Innere ist schlicht, die Nazis hatten von der Einrichtung nichts übrig gelassen. An den Wänden die Namen der früheren jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Pünktlich um acht kommt das Orchester herein – ein paar Jungs in Konfirmandenanzügen, Mädels in Abiballkleidchen, Blasinstrumente unter den Arm geklemmt. Meine Erwartungen sinken. Und dann setzen sie ihre Instrumente an und ein überwältigend wuchtiger Sound bringt die Synagoge zum Beben. Die typischen Klezmer-Harmonien ins hier und jetzt geholt von diesem Orchester. Gänsehauterzeugend, nicht sentimental verklärend, sondern optimistisch und ganz in der Gegenwart, eine fast vernichtete Kultur und ihr zentrales Gebäude nicht nur wiederauferstehen, sondern neu durchs Leben tanzen lassend. Das Konzert ist absolut grandios. Was für ein Abschluss meiner Reise durch den Norden Polens!
Denn am nächsten Tag ist es soweit – Suwalki-Lücke, ich komme! Mein erstes Ziel ist der Kurort Druskininkai in Litauen, Ziel in Google Maps eingegeben, anderthalb Stunden, das passt. Den Grenzübergang mit seiner frisch geteerten Schnellstraße hatte ich bei einer Wanderung zuvor bereits aus der Ferne gesehen. Um so verwunderter bin ich dann, als die Straße immer schmaler wird, sich an kleinen Bauernhöfen entlang windet und der Straßenbelag plötzlich nur noch aus Erde und Schlaglöchern besteht. Kleine Abkürzung, Google? Aus dem sandigen Sträßlein wird ein Waldweg. Ich sollte umdrehen. Hier kann doch kein Grenzübergang sein! Mitten im Wald kommen mir Autos entgegen, alle mit litauischen Kennzeichen und da, weiter vorne sehe ich auch ein Auto, das in dieselbe Richtung fährt wie ich. Also gut, ich versuche es weiter. An einer Waldkreuzung dann ein großes Schild: Lietuvos Respublika. Die Familie aus dem Auto vor mir, zwei Radfahrer, alle machen Bilder mit den Grenzpfosten. Hat mich Google wohl mit einer heimlichen Attraktion versorgen wollen. Nun denn, bald biege ich auf eine wieder geteerte Straße ein und sehe die ersten Holzhäuser – ich bin in Litauen. Eigentlich stelle ich mir so Schweden vor, bunte Holzhäuser auf sattgrünen Wiesen, strohblonde Kinder, einsame Seen. Eine kleine Vorahnung erfasst mich: vielleicht braucht es gar nicht die vielen hundert Kilometer rund um die Ostsee und erhebliche Mengen an schwedischen und norwegischen Kronen, um so richtig in Skandinavienlaune zu kommen.
Von der polnischen Waldgrenze sind es nur etwa 30 Minuten bis ins schöne Druskininkai und bald gehört auch mir ein reizendes Holzhäuschen. Wenn auch nur für fünf Tage. Das Haus ist das letzte im Ort, dahinter wartet ein Wald mit riesigen Nadelbäumen und unglaublich milder Luft. Hinter den Bäumen fließt die Memel und hier kann man ewig auf breiten Wanderwegen inmitten schöner Natur laufen. Ich mache erst einen Riesenbogen durch den schönen Wald um das Städtchen und dann mittenrein. Ein hübscher Park, ein großer See mit Strand, ein bisschen Bäderarchitektur, eine knallblaue russische Holzkirche, ein paar Ex-sowjetische Bausünden. Entspannte Menschen, ein sehr gemischtes Publikum und Wohlfühlatmosphäre. Der Ort ist Kurort und vor dem Kurhotel trifft man sich am Brunnen. Zu den Wasserspielen wird ganz Kur-untypisch Queen gespielt, semmelblonde Kinder planschen am Rande des Brunnens mit. Nett hier!
Und während Deutschland in der sommerlichen Hitze verglüht, sind die Temperaturen hier angenehm und der Regen reichlich, auch mal durchaus einen ganzen Tag lang. Mein Ausflug zur Grenze nach Belarus muss ich auf den übernächsten Tag verschieben, dafür ist die Luft dann frisch gewaschen. Ein Stündchen gemütlich gewandert und schon bin ich in der nächsten Idylle auf der Hitliste der gefährlichsten Orte. Kleine Bauernhäuser, viele Störche, liebliche Natur und gegenüber liegt Belarus.
Und genauso geht es im 30 Kilometer entfernten Nationalpark Dzūkija weiter. Das Naturidyll wird diesmal garniert mit Seen, Flüsschen und grandioser Einsamkeit im Märchenwald. Und kleinen Dörfern, in denen die Farben der Häuser mit dem tiefblauen Himmel um die Wette strahlen. Ist es die vermutete Gefährlichkeit, die mich hier fast allein sein lässt oder ist das alles einfach nur ein bisher sehr gut vor Touristen verstecktes Geheimnis? Die hervorragende Infrastruktur mit freundlichem Besucherzentrum, schönen Grillplätzen und – natürlich, das ist Litauen – bestem Mobilfunkempfang im hintersten Waldwinkel sprechen gegen letzteres. Nicht zu vergessen der Lavazza-Kaffeeautomat, der nach meiner einsamen Wanderung wie eine kleine Oase im Zauberwald wirkt und als ich verzweifelt feststelle, nicht genügend Kleingeld für seine Dienste zu haben, großzügig auch meine EC-Karte akzeptiert. Nein, diese Gegend will Touristen, die ein wunderschönes Fleckchen in der Mitte Europas entweder nicht mehr oder noch nicht auf der Agenda haben.
Wenn das jetzt also der gefährlichste Teil meiner Reise war, dann bin ich bereit für mehr. In diesem Land fühle ich mich pudelwohl und die Memel hinter meinem Haus hat mich auf eine Idee gebracht. Sveiki Lituva, hallo Litauen, ich komme!