Südlich von Danzig habe ich Pommern jetzt endgültig hinter mir gelassen. Die großartige Hafenstadt an der Ostsee lasse ich diesmal aus, denn es gibt noch so viel zu sehen. Zum Beispiel Masuren. Wie das klingt, Land der tausend Seen und dichten Wälder. Um hierhin zu kommen, muss ich erst durchs Ermland – hört sich jetzt nicht so nach Schönheit, Idylle und Abenteuer an, oder? Ich werde bald eines Besseren belehrt werden.
Ich steuere Olsztyn, das frühere Allenstein an. Schon auf dem Weg dorthin das erste Highlight – ungeplant und unerwartet. Auf der Autobahn sehe ich ein riesiges Hinweisschild mit einem aufgebockten Schiff. Die Straßen sind hier sonst weniger mitteilsam und eine Pause wäre jetzt sowieso nicht schlecht, also fahre ich ab und folge den Wegweisern. Was in Polen nicht immer Sinn macht, denn ich lande erst mal im Nirgendwo. Also muss Google ran, was mag denn hier wohl sein? Der Oberländische Kanal mit Schiffshebewerk, ganz wärmstens empfohlen. Also gut! In Buczyniec ist außer eben diesem Kanal, ein paar Häusern und einem riesigen blauen Wasserrad erst mal nichts zu sehen. Ich laufe ein Stück am Kanal entlang, überquere ihn über eine kleine Brücke, laufe zurück Richtung Wasserrad und sehe weiter unten ein Maschinenhaus. Ein freundlicher Mann winkt mir zu, ich solle reinkommen. Ich bestaune die riesige Mechanik im Inneren, eindeutig historisch, aber sehr gut in Schuss. Wofür das wohl alles da ist? Wieder draußen fängt das Wasserrad plötzlich an, sich zu drehen. Dicke Metallseile bewegen sich im Wasser. Ich beeile mich, das Ende des Kanals zu erreichen, hinter dem es auf einer Wiese bergab geht. Unten geht der Kanal weiter. Ein Schiff kommt dort angetuckert, fährt in ein Metallgestänge und was jetzt? Das Schiff taucht aus dem Wasser auf, es hat Räder bekommen. Das Metallgestänge ist der obere Teil eines Wagens, der auf Schienen fährt und jetzt bestückt mit Boot und Besatzung die Wiese hinaufgezogen wird. Auf meiner Höhe angekommen, taucht der Wagen im Kanal ab und entlässt seine schwimmende Beute in die Freiheit. Nicht nur, dass alles wie von Geisterhand zu geschehen scheint, dieses technische Wunderwerk ist über 150 Jahre alt: seit 1860 werden Schiffe hier in die Höhe gezogen. Und zwar ausschließlich mit Wasserkraft. Im kleinen Museum kann man alles über die Technik und den Erbauer Georg Steenke lernen. Material für den Ahnenblog 🙂
Beschwingt nähere ich mich Allenstein, der Hauptstadt der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Mal wieder ein bisschen Stadt um mich rum, Allenstein hat knapp 170.000 Einwohner und einen hohen Studentenanteil. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es hier nett sein wird. Und das ist es. Mehr als nett. Allenstein ist toll! Die schöne Altstadt, die man durch das Hohe Tor betritt. Der große Platz mit spätgotischem Rathaus und Bibliothek. Die Häuser drumherum in den 50er und 60er Jahren zeitgenössisch restauriert und immer noch mit einem Hauch Restsozialismus versehen. Die trutzige Deutschordensritterburg, die zeitweise von Nikolaus Kopernikus verwaltet wurde. Die schönen Parks, wo man am Ufer der Łyna die heißgelaufenen Füße im klaren Wasser kühlen kann. Die vielen jungen Menschen, die das Stadtleben prägen. Die tollen Cafés, allen voran das House Cafe mit leckersten Torten, bestem WLAN und guter Atmosphäre. Die Spuren des alten Ostpreußen. Und noch vieles mehr, das die Stadt auch für einen viel längeren Aufenthalt spannend macht. Mein Apartment ist leider schon verplant, sonst wäre ich gerne noch länger geblieben.
So ganz will ich vom Ermland noch nicht lassen. Hier waren die Deutschordensritter und hinterließen mächtige Burgen. Die in Allenstein hat mir noch nicht ganz gereicht. Die beeindruckendste Festung im Ermland soll die Frauenburg in Frombork sein, aber dafür müsste ich genau in die entgegengesetzte Richtung fahren, weg von Masuren. 2020 hatten wir einen ganzen Tag in der riesigen Marienburg in Malbork verbracht, eine kleinere Burg reicht mir diesmal auch. Deswegen entscheide ich mich für die Bischofsburg in Lidzbark Warminski, früher Heilsberg, für die ich nur ein Stündchen fahren muss. An die Marienburg reicht sie zwar nicht heran, aber schön restauriert und üppig verziert ist sie ein idealer Stopp auf meiner Fahrt in den Norden.
Mein Ziel ist Bartoszyce, früher Bartenstein. Hier ist die Grenze nach Kaliningrad ganz nah und in den nächsten Tagen werde ich bei einer Fahrt über Land doch tatsächlich von der polnischen Grenzpolizei kontrolliert. Sehr freundlich, aber auch sehr intensiv, eine Viertelstunde stellen sie mir Fragen und prüfen meinen Ausweis, Führerschein und Fahrzeugpapiere. Hätte die gut englisch sprechende Polizistin nicht beständig so nett gelächelt, wäre ich echt etwas nervös geworden.
In Bartenstein ist die Welt aber noch in Ordnung. Ich habe ein tolles Apartment mit allem Drum und Dran für gerade mal 35 Euro die Nacht. Hier spiele ich ein bisschen Zuhause, schmeiße eine Tiefkühlpizza in den Ofen, gucke deutsches Fernsehen und genieße am Abend auf dem Balkon ein Gläschen Weißwein, den mir der freundliche Vermieter als Willkommensgruß überreicht hat. Bartenstein hat eine kleine Altstadt mit einem Marktplatz, der darauf ausgelegt ist, dass sich Menschen hier treffen. Restaurants, Cafés und ganz hinten eine Bühne. Auf der erlebe ich dann den Auftritt eines föhngewellten polnischen Schlagersternchens. Allzu berühmt kann er nicht sein, sonst wären die Sitzreihen voller, aber die Leute haben Spaß und das ist ja die Hauptsache. Wirklich viel zu sehen gibt es im freundlichen Bartenstein nicht, aber drumherum lässt sich einiges entdecken. Zum Beispiel in Górowo Iławeckie, früher Landsberg/Ostpreußen. Die Kreuzerhöhungskirche sieht eigentlich wie eine klassisch ostpreußische Backsteinkirche aus. Heute ist sie aber eine ukrainisch griechisch-katholische Kirche mit modernen, fast schon fröhlichen Ikonen im Inneren. 1947 zwangsumgesiedelte Ukrainer – die hatten es schon damals nicht leicht – nahmen sich der 1335 erbauten, in den 1980er Jahren aber verfallenen Kirche an und transformierten das evangelische Gotteshaus. Mit einem spannenden Ergebnis, wie ich finde.
Und dann traue ich mich noch näher ran, an die Grenze zu Kaliningrad. Nach dem Erlebnis mit der Grenzpolizei bleibe ich aber mit ausreichend Abstand peinlichst genau auf der polnischen Seite. Denn eigentlich geht es mir nicht um die Grenze, sondern um Störche! Nicht, dass nicht in jedem ermländischen Dorf mindestens aus einem Nest hungrige Hälse emporragen. Aber in Żywkowo gibt es mehr Störche als Einwohner. Auf jedem Bauernhausdach, im großen Baum in der Dorfmitte, überall Storchennester. Und fast alle besetzt. Es wird geklappert und der Nachwuchs gefüttert, die Störche scheinen sich hier äußerst wohl zu fühlen. Eine Frau verkauft kleine Storchenandenken und ein Bauer hat einen Aussichtsturm gebaut, den man für einen Euro besteigen und den Störchen dann noch ein bisschen näher sein kann. Am Ortsausgang eine kleine Storchenhilfe: Afryka 10.000 km, steht auf dem Wegweiser. Damit sie sich nicht verfliegen.
Das war’s schon mit dem schönen Ermland. Toll ist es hier. Natürlich mit grandioser Landschaft, die kommt mir mittlerweile fast schon selbstverständlich vor. Keine klassische Touristengegend, aber die wollte ich auch nicht. Dafür so viele Möglichkeiten für Entdeckungen. In jedem Dorf wartet eine hübsche Kirche, ein altes Gutshaus, ein idyllischer Blick oder ein verfallener Friedhof. Und so viel Geschichte, der Deutsche Orden, die alten Pruzzen, eine überwiegend katholische Enklave im evangelischen Ostpreußen. Das Ermland ist in jedem Fall eine Reise wert!