Während meiner ersten Reise nach Portugal hatte ich unter anderem „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier im Gepäck und es hätte keinen besseren Ort geben können, um dieses Buch zu lesen. Ein Schweizer Lehrer begibt sich auf die Spuren eines portugiesischen Arztes und Philosophen, die ihn nicht nur nach Lissabon, sondern auch nach Coimbra führen. „Er liebte die Biblioteca Joanina in der Universität. Es verging keine Woche, ohne dass er dort war. Und die Sala Grande dos Actos, wo er sein Zeugnis entgegennahm.“ sagt die Schwester des Arztes über ihren verstorbenen Bruder und nicht nur der Lehrer, sondern auch ich beschließe, mir Coimbra einmal anzuschauen.
Ich bin doch erstaunt, dass ich historische Universitäten immer noch so faszinierend finde, aber Coimbra ist ja auch wirklich historisch und eine richtige Universität. Gegründet im Jahr 1290 thront sie auf dem Alcacova-Hügel über der Altstadt, „die majestätischen Gebäude der Universität, die alles überragen“, um nochmals Mercier zu zitieren. Wir kommen mit dem Tageszug aus Lissabon an und beziehen unser Hotelzimmer mit Blick auf den Mondego, der sich glitzernd und behäbig durch die Stadt zieht, um außerhalb der Stadtgrenzen Fahrt aufzunehmen und sich wild durch die Berglandschaft zu schlängeln. Oder fließt er andersrum? Jedenfalls ist er außerhalb von Coimbra etwas unbändiger. Aber dazu später mehr.
Die schmalen kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt Coimbras steigen steil an und winden sich den Berg hoch Richtung Universität. Wir unterbrechen unseren Aufstieg, kaum dass er begonnen hat und besuchen die Igreja de Santa Cruz, eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert, fliesengeschmückt und mit einer beeindruckenden Orgel. Mehr zufällig entdecken wir hinter einem Nebenraum den Zugang zu einem Kreuzgang hinter der Kirche. Eine kleine grüne Oase inmitten der Stadt, gut versteckt hinterlässt dieser Ort bei uns den Eindruck, als hätten nur wir ihn entdeckt, aber nein, da biegen schon andere Touristen um die Ecke.
Wir verlassen die Kirche und kommen nicht weit. Direkt daneben finden wir ein Café in einem historischen Kuppelbau. Wir bestellen Cafe com leite und Sandas de queiho, Milchkaffee und Käsebrötchen, und genießen die Atmosphäre. Während die Terrasse voll besetzt ist, haben nur wenige den Weg ins Cafe gefunden und die, die hier sind, scheinen oft zu kommen, um Zeitung zu lesen oder ein Schwätzchen mit dem Kellner zu halten. Jetzt wird es aber Zeit, endlich die Universität zu erobern. Noch eine Kirche stellt sich uns in den Weg, als auch diese bestaunt ist, steigen wir die letzten Meter empor und stehen auf dem Hauptplatz mit wunderbarem Blick über Coimbra und der Statue König Joaos III, des Universitätsgründers, in der Mitte. Wir stellen uns am Ticketschalter im neueren Teil der Universität an, nach 20 Minuten haben wir sie und damit vor allem auch den Termin für den Besuch der Bibliothek. Wir kehren zurück in den historischen Teil und wie so häufig, haben sich die juristische Fakultät und die Verwaltung hier die besten Plätze gesichert. Die wissen halt, wie’s geht 🙂 Wir besichtigen die repräsentativen Räume und stehen staunend an den Fenstern des Sala grande dos actos, des zentralen Prunkraums, in dem nicht nur Amtsübergaben oder die Eröffnung des akademischen Jahrs stattfinden, sondern auch die Doktorprüfungen und diese offensichtlich öffentlich und fast als touristisches Spektakel. An den Fenstern oben blickt man hinunter in den großen dunklen Saal, in dessen Mitte an einem Tisch eine arme Doktorandin im schwarzen Talar sitzt und auf einer Leinwand hinter sich ihre Doktorarbeit präsentiert hat. Das Prüfungskommitee, ebenfalls schwarz gewandet, sitzt ihr gegenüber auf einer seitlichen Empore und auf den vielen Sitzbänken hat die Öffentlichkeit Platz genommen, der es wohl eher um den Raum und das Ambiente als die Prüfung geht, denn man sieht die erleuchteten Handydisplays der gelangweilt wirkenden Gruppe bis oben hin leuchten. Einmal drin kommt man (hoffentlich) erst am Ende wieder raus und das offensichtlich medizinische Promotionsthema scheint nicht sehr mitreißend zu sein. Ich habe großes Mitleid mit der Promovendin und hoffe, sie hat alles gut über die Bühne gebracht.
Noch ein Besuch in der Universitätskathedrale, fast hat man sich schon gewöhnt an so viel Pracht, und dann sitzen wir endlich vor der berühmten Biblioteca Joanina und warten auf Einlass.
20 Minuten später stehen wir in der ersten der drei großen Hallen, links und rechts Bücherregale, hinter denen angeblich die schädlingsfressenden Fledermäuse schlafen, für die die Bibliothek auch berühmt ist. Photographieren darf man nicht, aber wir sind jetzt mal böse, versichern uns, dass der Blitz abgestellt ist und schießen aus der Hüfte.
Auch im Dämmerlicht ist die Pracht überwältigend, Architektur und Ausstattung spiegeln den Reichtum des damaligen portugiesischen Königreichs wider und lassen die eigentlichen Protagonisten – die Bücher – fast in den Hintergrund treten. Was für ein Gegensatz zum letzten historischen Büchertempel, den ich besucht habe, die frisch renovierte Anna Amalia Bibliothek in Weimar, deren Rokoko-Pracht in hellen Farben leuchtete und auch den Zugang zu einzelnen Büchern erlaubte. Die barocke Joanina hat in all ihrem Prunk etwas düsteres und die Bücher stehen erst im eher schlichten Untergeschoss im Mittelpunkt. Ein kurzer Abstecher in den Karzer – frisch gestrichen wirken die Zellen nicht unbedingt abschreckend – und dann stehen wir wieder in der immer noch gleißenden Sonne.
Wir sind viel gelaufen in den letzten Tagen und haben viel Stadt gesehen – wie wäre es zur Abwechslung mal mit einem kleinen Ausflug in die Natur. Von unserem Hotelzimmer konnten wir die bunten Boote auf dem Fluss sehen, also google ich nach Kayak und finde sofort eine Tour etwas außerhalb. Treffpunkt morgens um kurz vor 10 in Coimbra, den Rest erledigen sie für uns. Wir leihen uns zwei Fahrräder im Hotel und radeln am nächsten Morgen am Fluss entlang Richtung Ruderclub. Zunächst sind wir die einzigen, die dort warten, etwas später kommen noch zwei Französinnen und ein junges Pärchen mit dazu. Unser Guide lotst uns zu einem kleinen Bus und wir fahren nach Penacova, etwa 20 Kilometer am Fluss entlang ins Landesinnere. Dort angekommen merken wir, dass wir nicht die einzigen sind, die den Mondego bereisen möchten. An der Ablegestelle warten mehr als hundert Touristen darauf, die Kayak zu besteigen. Hm. Wir schnappen uns einen schnittigen Zweisitzer und paddeln los. Tatsächlich verteilt sich die Masse schnell, der Fluss ist breit und es gibt viele kleine Strände, an denen man anlegen kann. Wir meistern ein kleines Wehr und fühlen uns sehr sicher, ist ja nicht so, dass wir zum ersten Mal kayaken. Wir sind quasi Profis, das dürfte das dritte Mal sein. Vor drei Monaten in Costa Rica. Und davor in Vietnam. Ist das wirklich schon sieben Jahre her? Aber, gelernt ist gelernt. Der Fluss hat eine gemütliche Strömung, man muss fast nur lenken, kann sich treiben lassen und die spektakuläre Landschaft genießen. Bewaldete Hänge zu beiden Seiten, Ziegenherden und strahlend blauer Himmel. Ab und an eine Stromschnelle, aber wie gesagt – wir können das. Der Fluss fließt plötzlich wieder schnell, das Boot dreht sich quer, neigt sich nach links und schwups liegen wir drin im kühlen Mondego. Ah, wie konnte das passieren? Das Wasser ist tief, die Schwimmweste hält, eigentlich ist es ja ganz angenehm. Mein Hab und Gut ist in einer Box auf dem Boot wasserfest angeschnallt, meine Schuhe, auf die kann ich zur Not auch verzichten, die müffeln schon seit Costa Rica. Unter mir berührt etwas mein Bein – mein Hut aus Australien dümpelt am Flussgrund. Mein Paddel habe ich auch schnell, das von Eric treibt etwas weiter entfernt, das kriege ich. Eric kümmert sich um das Boot, ich schwimme durch den Fluss zum anderen Paddel und werde rasch weitergetrieben. Ein Guide nähert sich in seinem Kayak, ich hänge mich an sein Boot und er zieht mich an eine seichte Stelle, wo ich auf Eric warten kann. Eigentlich alles sehr lustig und äußerst erfrischend – wenn Eric nicht Minuten zuvor seine Kamera hervorgeholt hätte. Alles findet sich im Boot wieder, sogar die muffeligen Schuhe – nur die Kamera, die darf jetzt für immer im frischen Flusswasser baden. Und sie wird ein langes Leben haben, denn sie ist wasserdicht eingepackt, aber wir werden sie wohl nie wiedersehen. Der erste große Verlust auf der Reise. Zum Glück ist es „nur“ eine Action-Cam, die große Spiegelreflex liegt trocken im Hotel, aber wir schlucken schon. Nun ja, die Fahrt ist weiter toll und ändern können wir es jetzt nicht mehr. Vielleicht sollten wir doch mal einen Kayak-Kurs machen? So einen ganz kleinen? Oder haben wir jetzt unsere Kayak-Taufe erlebt und uns kann nichts mehr schocken?
Jedenfalls gönnen wir uns am Abend auf den Schreck einen Besuch in einem ganz besonderen Restaurant, dem Lingua, das lusophonische Küche anbietet und das musste ich erst mal nachschlagen. Lusophonie, die Bezeichnung für den portugiesischsprachigen Raum. Zu einem Bier aus Mozambique gibt es eine herrlich scharfe Suppe aus Macau und einen Fischtopf mit Reis aus Guinea-Bissau. Zu gern hätten wir auch noch die Geschmäcker von Angola, Brasilien oder der Kapverdischen Inseln probiert, aber nicht mal ein Nachtisch passt mehr rein. Sehnsüchtig blicke ich auf die große Weltkarte an der Wand, die die lusophonischen Länder darstellt und bleibe an einem jungen Staat in Südostasien hängen – Timor-Leste, Osttimor, stand eigentlich auch auf meiner Liste, aber ein Jahr ist einfach viel zu kurz, um alle Traumländer zu besuchen. Na mal sehen, vielleicht beim zweiten Mal!