Und das Beste kommt zum Schluss

Und da ist er, mein letzter Abend in Lettland. Keine von diesen legendären „White Nights“, obwohl die Mittsommernacht unmittelbar bevorsteht. Denn es regnet und so fällt der späte Sonnenuntergang heute nicht auf. Ich bin in Riga, ein perfekter Abschluss meiner Reise ins Baltikum. Als sich der Bus vom Flughafen – dort habe ich mich von meinem tapferen litauischen Flitzer getrennt – der Brücke über die Daugava nähert, ahne ich schon, dass mich hier etwas ganz besonderes erwartet: das Panorama der Altstadt auf der anderen Flussseite ist beeindruckend. Leider stecken wir im Stau und ich würde so gerne jetzt sofort loslegen und Riga erobern. Der Busfahrer flucht, drängelt sich in jede noch so kleine Lücke und lässt uns irgendwann endlich am Bahnhof aussteigen. In zehn Minuten bin ich am Hotel, superzentral und ganz schön edel. Zum Abschluss der Reise hab ich mir ein bisschen was gegönnt, die Unterkünfte in Riga sind sowieso alle teuer. Es ist noch viel zu früh zum Einchecken, also Koffer abgeben und rein ins Vergnügen. Aber diese Stadt überfordert mich: zuerst zu dem mittelalterlichen Pulverturm auf der rechten Seite? Oder die riesige Säule hinter mir? Das Rathaus vor mir? Ah, ich kann mich nicht entscheiden! Also erst mal ins nächste Café. Einen Flat White später entscheide ich mich für einen Spaziergang zu den Markthallen. Die vielen Stände quellen über vor Beeren und Kirschen, es ist eine Pracht. Dem Fisch gehört eine ganze Halle, in der man frische oder geräucherte Exemplare kaufen kann. So viele gute Zutaten – leider ist die lettische Küche nicht die allerraffinierteste. Ich kaufe mir eine Schale Himbeeren, setze mich in die Sonne und schaue mir das Leben in Riga erst einmal an.
Und dann zurück in die Altstadt, ein bunter Mix von Gebäuden, Backstein neben Jugendstil, großzügige Plätze und verwinkelte Kopfsteingassen und viele Touristen. Riga ist kein Geheimtipp mehr, die Preise haben deutsches Niveau und die Deutschen scheinen hier auch die Mehrzahl der Touristen zu stellen. Aber dem Charme der Altstadt tut das keinen Abbruch. Eine Parkanlage bildet die Grenze zur Neustadt und hier merkt man, dass sich Mittsommer nähert. Auf langen Holztischen sind Blumen und Zweige ausgebreitet und jeder ist eingeladen, sich seinen eigenen Blumenkranz zu binden. Traditionell gekleidete Frauen geben Anleitungen und singen dazu – das ist ja besser als jedes Schweden-Klischee. Ich setze mich auf eine Bank, jetzt fangen sie auch noch an zu tanzen, kleine blonde Kinder, lauter Michels und Klein-Idas.
Am Abend laufe ich hinunter zum Fluss und auf einer der Brücken ans gegenüberliegende Ufer. Es ist fast 10, natürlich noch hell und das Licht ganz besonders intensiv. Städte am Fluss sind doch einfach immer besonders. Auch das moderne Riga ist sicherlich spannend, der futuristische Bau der Nationalbibliothek gibt einen Eindruck, aber ich werde dafür nicht genügend Zeit haben. Denn Riga hat so viel zu bieten und ganz besonders eindrucksvoll sind die vielen Jugendstilbauten. Glück gehabt, dass in Riga gerade Anfang des 20. Jahrhunderts viel Geld für den Bau und zu Sowjetzeiten zu wenig Geld für den Abriss vorhanden war. Eines der größten Jugendstilensembles der Welt in unterschiedlichen Erhaltungsgraden, von jetzt-sollte-aber-wirklich-was-passieren bis frisch renoviert. Im sehenswerten Museum, das eine komplette Jugendstilwohnung präsentiert, kaufe ich mir eine Führer zu den Jugendstilperlen Rigas. Diese Pracht macht mich sprachlos, damit habe ich nicht gerechnet. Zwischendrin entdecke ich ein originales Jugendstil-Café, die Preise sind selbst für unsere Verhältnisse gepfeffert, aber hier zu sitzen und auf die wunderbaren Häuserfassaden gegenüber zu schauen, rechtfertigt auch mal einen teures Kännchen Tee.

Das war es jetzt also mit dem Baltikum. Vorerst, denn es gibt noch so viel zu sehen und Estland fehlt mir komplett. Aber ich bin froh, dass ich nicht auch noch Tallinn in diese Reise gepackt habe. Drei Wochen Baltikum, das hört sich viel an und die Länder sind klein, aber das wäre mir zu stressig gewesen. Ich hätte aber auch nicht gedacht, dass Litauen und Lettland so unterschiedlich sind. Die Landschaft mag ähnlich sein, die Kulturen auch, aber eben nur ähnlich. Litauisch und lettisch hören sich für mich wie zwei vollkommen unterschiedliche Sprachen an, Litauen eher noch eindeutig östlich, Lettland fast schon schwedisch. Vilnius und Kaunas wirken wie Provinzhauptstädte gegen das hanseatisch vornehme Riga. Beim Essen gewinnt eindeutig Litauen – man wird satt in Lettland, aber das war’s dann auch schon. Der große Gegensatz zwischen Stadt und Land ist in beiden Staaten vorhanden und verliebt in die Technik des 21. Jahrhunderts sind sie auch beide. Nirgendwo hatte ich bisher eine so gute Netzabdeckung, WLAN im kleinsten Restaurant. Auch die nördliche Zurückhaltung teilen sich Litauer und Letten – als alleinreisende Frau sehr angenehm. Die sowjetische Vergangenheit scheint Litauen schon vollständiger abgelegt zu haben als Lettland, aber gerade in Riga leben auch noch viele Russen. Und in Sachen Naturerlebnis sind beide Länder absolute Highlights. Die baltischen Staaten sind keine Billigreiseländer, aber verglichen mit Skandinavien sicherlich ein Schnäppchen. Tolle Ferienhäuser an einsamen Seen, das bekommt man hier viel günstiger als in Schweden oder Finnland. Nur bei den Moskitos gibt es weniger Unterschiede.
Ich beende meine Reise mit vielen neuen Eindrücken und einem hochemotionalen Familienerlebnis. Und ich habe noch mehr Lust gekriegt auf Osteuropa. Ich bin mir sicher, dass dort noch viele Wunder zu entdecken sind.

Lettische Begegnungen

So viele Störche! In Rumänien bin ich noch extra in einen Ort gefahren, der für seine vielen Storchennester bekannt ist. Hier sind sie in jedem Dorf und einfach überall. Sie stolzieren auf den gerade gemähten Wiesen, stehen in ihren Nestern und fliegen majestätisch über die Felder. Das ländliche Litauen hat auch außerhalb der Wälder seinen großen Reiz. Ich schaue noch einem Storchenpaar hinterher, da steht plötzlich am Straßenrand ein großes blaues Schild: Latvija! Ich bin in Lettland, einfach so. Ach diese EU, schon toll.
Ich halte an und studiere erst mal intensiv die Geschwindigkeitsregeln. „Be careful in Latvia“, sagte mir der nette Mann beim Autoverleih in Vilnius, von da würden sie eine Menge Strafzettel bekommen. 50 innerorts und 90 außerhalb, auf unbefestigten Straßen 80. Ich sag’s gleich, meine Richtgeschwindigkeit in den nächsten Tagen werden die 80 sein, wobei man auf den Schotterpisten selten überhaupt schneller als 60 fahren kann. Meine erste lettische Begegnung ist die Dame an der nächsten Tankstelle. Ich fahre an die Säule, der Betrag vom Vorgänger leuchtet noch im Display, ich nehme den Zapfhahn, drücke ihn in den Tankstutzen, nichts passiert. Vielleicht muss man vorher zahlen, das war glaub ich in Amerika so. Also rein, ich zeige auf mein Auto, zucke die Schultern und die Dame übergießt mich mit einem Schwall empört klingender Worte. Öh? Dann geh ich halt wieder. Draußen versuche ich es noch mal und plötzlich fließt das Benzin. Gut, das wäre dann geschafft. Aber was hat die Gute nur so aufgeregt?
Ich fahre weiter Richtung Madona. Ein vollkommen uninteressanter Ort, sagt mein Reiseführer. Aber jetzt beginnt der genealogische Teil meiner Reise. Ich will sehen, wo mein Großonkel Ernst Krüger 1944 im Alter von 21 Jahren gefallen ist.
Ernst Krüger war der jüngste Bruder meiner Großmutter Meta. Als er 1923 in Pommern auf die Welt kam, war Meta schon 23 Jahre alt und hatte eine zweijährige Tochter. Die war damit älter als ihr eigener Onkel und vielleicht sind sie sogar zusammen groß geworden, im kleinen Schivelbein. Wann Ernst Soldat wurde, weiß ich nicht. Vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge bekam ich vor Jahren die Auskunft, Ernst sei im August 1944 gefallen, und in der Dorfmitte von Kurtsalas, fünf Kilometer westlich von Madona, Lettland beerdigt. Schon damals war mir klar, dass ich irgendwann dort hin fahren würde.
Nach einigen Kilometern über unbefestigte Straßen komme ich in Kurtsalas an. Der Ort besteht aus drei Häusern und einer Scheune. Ich steige aus dem Auto und schaue mich ein wenig um, da kommt eine alte Frau aus ihrem Haus, vielleicht so um die 70. Sie guckt mich fragend an und ich strecke ihre mein Handy entgegen, mit Google Translate hatte ich den Satz „Ich suche ein Grab aus dem 2. Weltkrieg“ ins lettische übersetzen lassen. Sie schaut mich an, nickt und geht mit mir um das Haus in ihren Garten. Unter einem Baum bleibt sie stehen und deutet auf die Erde. Ich habe sie leider nicht verstanden, ich spreche kein Wort lettisch und sie vielleicht 10 Worte Englisch. 1944, sagt sie. Ja, sage ich und tippe ins Handy „Bruder meiner Großmutter“. Sie spricht weiter, hätte ich das nur alles verstehen können. Ich mache ein paar Photos und wir gehen wieder. Zum Abschied umarmt sie mich und winkt mir noch lange hinterher.
Was für ein Erlebnis. Was hätte meine Großmutter dazu gesagt? Ist es wirklich Ernst, der unter dem Baum vergraben liegt? Soll ich noch mal hin und aufnehmen, was die alte Frau sagt und das Ganze in Deutschland übersetzen lassen? Nein, dieser Moment war zu einzigartig, ich will jetzt glauben, dass der kleine Bruder meiner Omi an diesem friedlichen Ort in einem schrecklichen Krieg seine letzte Ruhe gefunden hat.
Am nächsten Tag ist Rundale mein Ziel. Ein schönes Schloss, steht im Reiseführer, und ich will eigentlich an die Ostsee, aber das ist ein Stückchen und ich mache lieber einen Zwischenstopp. Eigentlich sind es nur zwei Stunden von Madona nach Rundale, sagt das Navi. Wenn man 80 fährt auf unbefestigten Straßen. In Koknese mache ich eine Pause, eine idyllische Burgruine an einem See gelegen. Die Damen im Ticketoffice sind extrem nett, freuen sich über Besuch aus Deutschland und könnten es mit ihren weißblonden Haaren und langen Kleidern auf die Titelseite eines jeden Schweden-Reiseführers schaffen. Die Ruine ist stimmungsvoll, erinnert ein wenig an Irland, und der Wald nebenan ein netter Ort für einen kurzen Spaziergang. Jetzt aber weiter. Bald ist es mit den geteerten Straßen vorbei. Das Navi lotst mich auf eine Schotterpiste. Kann ja so lange nicht dauern, oder? Ein kurzer Blick, bitte 37 km geradeaus. Auf dieser Straße? Es werden letztendlich über 60 km auf der Piste, mal ein ganz kurzes geteertes Stück, wenn man durch ein Dorf kommt, aber nicht zu früh gefreut, rums, da ist es schon wieder vorbei mit dem Asphalt.
Ich komme am frühen Nachmittag in Rundale an und miete mich im Hotel gegenüber ein. Und dann auf ins Schloss. Und das ist mehr als einen Zwischenstopp wert. Von außen zunächst noch etwas unspektakulär, zumal wenn man ein paar Jahre in einem Schloss gearbeitet hat. Aber dann innen! Jeder Raum, jeder Saal ist farblich und stilistisch anders gestaltet. Dabei wirken die Zimmer manchmal richtig gemütlich. Vom Schlafgemach sehe ich auf den Garten hinaus, eine riesige Parkanlage. Rundale wird auch das Versailles des Baltikums genannt. Ich war noch nie in Versailles, also kann ich es nicht beurteilen, aber das ist schon ziemlich schön und mitten in der lettischen Pampa. Ich streife zwei Stunden durch die Parkanlage, hinter hohen Hecken finden sich verwunschene grüne Oasen, viele Familien sind an diesem Sonntag hierher gekommen und picknicken. Sehr hübsch hier!
Und dann weiter Richtung Ostsee. Ganz nach oben, wo sich am Kap Kolka Ostsee und Rigaer Bucht treffen. Wieder ein Nationalpark, wieder im Wald, aber mich kann ja langsam kein Holperweg mehr schockieren und der Fiesta trägt es mit Fassung. Für 29 Euro bekomme ich ein Holzhäuschen ganz für mich allein, unten Küche, Bad und Wohnzimmer, über eine Leiter gehts nach oben zu den Betten. Die Fahrt war lang, ich habe fünf Stunden gebraucht für die 250 Kilometer mit nur einem kurzen Essensstopp.
Der kleine Ort an der livländischen Ostseeküste ist jetzt genau das richtige. Ein kleiner Waldspaziergang, dann stehe ich am menschenleeren Ostseestrand, laufe erst nach links, dann nach rechts, suche mir ein Plätzchen in den Dünen. Das Licht ist toll, es ist schon halb neun, aber die Sonne steht noch hoch. Auch am nächsten Tag gehört mir der Strand allein. Ein kleiner Ausflug zum Kap, hier begegnet man schon mehreren Menschen, aber es wirkt trotzdem sehr einsam. Auf der Düne über dem Kap die Ruinen einer sowjetischen Militäranlage. Zu Sowjetzeiten war die gesamte Küste militärisches Sperrgebiet, schlecht für die Letten, gut für die Natur. Ein Stückchen weiter sehe ich mehrere große Holztonnen auf der Düne. Beim Näherkommen wird klar: das sind kleine Zimmer. Toll gemacht, die zum Meer gewandte Seite ist komplett aus Glas, was für ein Blick direkt aus dem Bett. Hätte ich nicht mein kleines Häuschen, hier würde ich gerne für eine Nacht einziehen.
Am Abend falle ich um neun ins Bett. Die Meerluft, die lange Wanderung am Strand – und schließlich ist ja Urlaub!

Litauische Landpartie

So langsam sollte ich mich Richtung Lettland aufmachen. Mein Rückflug geht ab Riga und außerdem muss ich dort noch in Sachen Familienforschung tätig werden. Also mit dem Bus nach Riga und von dort ein Auto mieten? Ach, schönes Litauen, ich würde ja gerne noch einen Eindruck vom Landleben bekommen. Also beiß ich in den sauren Apfel, bezahle eine One-Way-Gebühr und miete mir in Vilnius einen kleinen roten Flitzer, den ich eine Woche später in Riga abgeben werde. Und steuere als erstes Trakai an, in jedem Reiseführer hochgelobt für seine romantische Wasserburg. Das haben viele gelesen und die Nähe zu Vilnius sorgt dafür, dass die Gruppen busweise angekarrt werden. Der Ort und die Burg sind hübsch, aber eben auch voll. Ich esse eine Klienigkeit am See und starte dann zu meiner Unterkunft außerhalb von Trakai. Ein Bauernhof an einem idyllischen See, ich werde herzlich begrüßt und habe den ganzen Hof für mich alleine. Zwei Pferde, ein paar Katzen und dieser wirklich wunderschöne See. Die Vermieterin hat dann auch gleich Tipps auf Lager, es gibt ein schönes Herrenhaus gegenüber der Wasserburg, da sieht man die Burg auch, es gibt aber nur wenige Touristen. Klasse, das mach ich. Die gute Frau hat absolut Recht, ein idyllischer Landschaftsgarten, das edle weiße Herrenhaus und ein schöner Blick hinüber nach Trakai. Uzutrakis heißt der schöne Ort, falls ihr mal vorbei kommen solltet. Gegen Abend fahre ich nach Trakai hinüber, viel leerer ist es noch nicht, ich drehe eine Runde um die Burg, sie ist wirklich imposant. Ich kaufe mir ein paar gefüllte Teigtaschen, die Spezialität der Karäer, einer jüdischen Gemeinschaft in Trakai, die nicht dem Talmud folgen und glücklicherweise selbst Hitler zu unjüdisch waren. Mit den leckeren Täschchen und einem Bier setze ich mich auf den Holzsteg meines Privatsees und fühle mich wie in Lönneberga. 

Am Morgen hat die Wirtin einen weiteren Tipp für mich: ich soll mir Kernave anschauen, die erste Hauptstadt Litauens. Jetzt lag sie ja schon mal so richtig, Kernave ist auf meiner Route Richtung Norden und also schaue ich vorbei. Kernave gehört zum Weltkulturerbe, aber ihre Blütezeit ist schon viele hundert Jahre her. Ihre Hochzeit hatte sie im 13. Jahrhundert und heute sind von den fünf Wehrburgen nur noch Hügel übrig. Das Troja Litauens nennt sich der Ort auch, auf einem der Hügel wurde ein Wehrdorf neu nachgebaut, aber man muss historisch schon sehr interessiert sein, um hier voll auf seine Kosten zu kommen. Also mache ich mich bald weiter auf den Weg in den Aukstaitija Nationalpark im Nordosten. Mitten im Wald sei meine Unterkunft und die Wege nicht immer befestigt. stand in der Beschreibung. Ja, das kann ich bestätigen. Zunächst geht es noch über eine recht solide Schnellstraße. Am Wegesrand ein Schild, hier sei der geographische Mittelpunkt Europas. Ich halte an, neben einem Golfplatz führt eine Holzbrücke zu einer Säule, die von allen Fahnen der europäischen Mitgliedsländer gesäumt wird. Na, eine können sie ja bald runterholen. Und das soll der geographische Mittelpunkt Europas sein? Hier, so weit im Norden? Also bitte keine Zweifel, macht ein großes Schild deutlich. „Ungeachtet dessen, dass einige Länder sich eines geographischen Mittelpunktes Europas rühmen, liegt das tatsächliche und einzige geographische Zentrum Europas in Litauen.“ steht darauf in mehreren Sprachen. So, jetzt wissen wir’s! Und kein Widerspruch!

Ich fahre weiter, die Straßen werden enger und irgendwann führt mich das Navi auf eine Schotterpiste. Ich kann mich zum Glück nicht erinnern, dass auf dem Formular der Mietwagenfirma unbefestigte Wege ausgeschlossen waren. Bissle staubig, aber es geht schon. Und dann kommt der Wald und das Navi will, dass ich nach rechts auf einen Waldweg abbiege. Dann werd ich wohl gleich da sein, denk ich mir. Tja, es geht noch etwa 10 km mitten durch den Wald, langsam wird mir etwas mulmig, der Weg wird immer holpriger und enger, kann das wirklich sein? Irgendwann kein Netz mehr, na toll, jetzt sitz ich fest in den Weiten des litauischen Waldes. Wenden ist auf dem schmalen Weg ausgeschlossen, also weiter vorwärts und irgendwann tatsächlich ein Schild nach rechts zu meiner Unterkunft. Ich bin wirklich erleichtert…. Ein paar Holzhäuser auf einer großen Lichtung, ein Platz für ein Lagerfeuer, in der Ferne ein Hochsitz. Ist das idyllisch! Erst mal scheint niemand hier zu sein, dann kommt mir Marija mit ihrem Hund entgegen. Sie führt mich zu einem der Holzhäuser, das Zimmer ist wunderschön! Ich komme mir vor wie in einem Blockhaus, aber mit allen Annehmlichkeiten. In einer Karaffe wartet frisches Quellwasser auf mich, zwei gemütliche Betten, alles duftet nach Holz. Marija empfiehlt mir, einen Spaziergang durch den Wald zum See zu machen, es seien drei Kilometer und sie habe es gut ausgeschildert. Nur die Moskitos, die seien gerade sehr aktiv, ich soll lieber eine Mütze aufsetzen, sie stechen gerne in den Kopf. Ich ziehe trotz der Wärme meinen Anorak über und marschiere los. Kaum im Wald fallen tausende von Mücken über mich her. Ich ziehe die Kapuze ganz tief ins Gesicht, stecke die Hände die Jackentaschen, durch die gummierte Beschichtung kommen sie nicht durch, aber durch die Jeans. Ich schwitze und rase durch den schönen Wald. Irgendwann kommt der See in Sicht. Ein paar Holzhäuser und ein wunderschöner großer See. Und die Moskitos bleiben im Wald. Ich ziehe die Jacke aus, ich bin nassgeschwitzt. Was für ein schöner Ort! Ich sitze eine Stunde am Ufer, um sieben soll es Essen geben, also mal wieder rein in das Insektenparadies. Dafür werde ich später im Haus von Marija mit einem traumhaften Salat aus ihrem Garten, selbstgemachten Rehravioli und frischen Erdbeeren verwöhnt. Dieser Ort ist unfassbar, alles ist so liebevoll und perfekt gestaltet und so still, dass es mir fast in den Ohren dröhnt. Ich erkunde nach dem Essen die Lichtung noch etwas, ein Reh springt über den Weg, ich kriege sofort ein schlechtes Gewissen wegen der Ravioli. In meiner Blockhütte schlafe ich wunderbar, diese Ruhe ist unfassbar. Nach dem phantastischen Frühstück gehe ich noch die Ziegen besuchen. Kurz überlege ich, ob ich noch eine Nacht bleiben soll, aber das Moskito-Erlebnis schreckt mich etwas ab. Mit einem guten Insektenspray ist der Ort aber der absolute Traum!

Marija beschreibt mir eine Route zur lettischen Grenze, kein Problem, sagt sie. Sagen wir es mal so: ich habe aus dem großen Wald wieder herausgefunden. Aber sicherlich nicht auf dem direkten Weg. Und ich habe es nach Lettland geschafft. Davon dann demnächst mehr.

Vilnius? Kaunas!

Eigentlich wollte ich ja nach Lettland. In Litauen bin ich nur gelandet, weil es diese praktische Fährverbindung gibt. Ein bisschen kurische Nehrung und dann weiter nach Riga. Dachte ich. Aber ich kann noch nicht weg hier, ich bin neugierig geworden auf dieses Land.
Die Entfernungen sind nicht groß und so beschließe ich, mir Kaunas anzuschauen. Litauens zweitgrößte Stadt, zeitweise sogar mal Hauptstadt. Ich nehme den Morgenbus in Pervalka, die Fähre wartet schon auf uns und um kurz nach neun stehe ich in Klaipeda. Der Spaziergang zum Busbahnhof zieht sich, aber dort angekommen, läuft alles professionell ab. Der Bus ist das öffentliche Verkehrsmittel in Litauen, reservieren nicht nötig, in die großen Städte kommt man alle halbe Stunde.
Eine zweistündige Fahrt später erreichen wir Kaunas. Zu Fuß in die Innenstadt sind es knappe 20 Minuten und je näher ich dem Zentrum komme, desto mehr Baustellen begegne ich. Was ist denn hier los? Kaunas 21?

Ne, Kaunas 22! Dann wird die Stadt nämlich europäische Kulturhauptstadt sein und ich nehme es schon mal voraus: das Jahr sollte man sich für eine Kaunas-Reise notieren.
Mein Hotel liegt in der breiten Fußgängerzone, die sicherlich sehr spektakulär ist, wenn die Sandberge und tiefen Löcher wieder verschwunden sind. Ein altes Haus mit einem beeindruckenden Treppenhaus und eine tolle Einstimmung auf die Stadt.

Kaunas vereint eine ganze Menge: Studentenstadt, historische Altstadt, elegante Neustadt, Park am wunderschönen Zusammenfluss von Neris und Memel. Was mich am meisten fasziniert, sind die Gebäude aus der kurzen Zeit, in der Kaunas Hauptstadt von Litauen war, zwischen 1920 und 1940. Zwischenkriegsmodernismus nennen sie es, ein bisschen Bauhaus, ein bisschen Art Deco. Teilweise bereits hervorragend restauriert, teilweise noch im Dornröschenschlaf. Aber das wird bis 2022! Das Nationalmuseum mit seinen ganz klaren Formen begeistert mich besonders. Schon aus architektonischen Gründen will ich es von innen sehen. Auf der einen Seite beherbergt es das Militärmuseum. Jetzt hält sich meine Begeisterung für Uniformen und Waffen ja sehr in Grenzen, aber eine kleine Einsicht in die litauische Befindlichkeit bietet es schon. Vytautas, litauischer Großfürst aus dem 14. Jahrhundert, ist der Nationalheld schlechthin, so populär, dass Vytautas auch heute noch einer der beliebtesten Vornamen für Jungen ist. Und dann die beiden Piloten Darius und Girėnas. Fast hätten sie in den 30er-Jahren den damals zweitlängsten Transatlantikflug geschafft, stürzten aber kurz vor ihrer Ankunft in Kaunas ab. Reicht aber in Litauen trotzdem für den Heldenstatus, das Wrack kann man im Museum besichtigen und welches Land kürt schon zwei Bruchpiloten zu ihren Stars?
Nach dem Militärmuseum kommt auch noch das Kunstmuseum dran, das auf der Rückseite des Gebäudes untergebracht ist. Und einem weiteren ganz wichtigen Helden huldigt, dem Maler und Komponisten Čiurlionis. Der Audioguide schwärmt von seiner Genialität, stellt ihn in eine Reihe mit Paul Klee und Kandinsky, ich finde leider wenig Zugang zu seinen Bildern. Aber schön, mal wieder ganz in Ruhe und konzentriert durch eine Ausstellung zu gehen.
Die Altstadt von Kaunas ist bei diesem herrlichen Wetter ein einziges großes Straßencafé. Ein komplett erhaltenes Ensemble hübscher kleiner Stadthäuser, Backsteinbauten und Kirchen, viele Studenten, entspannte Familien beim Sonntagsbummel, Touristen, Straßenmusiker – eine freundliche Mischung. Am Rande der Burg von Kaunas beginnt eine schöne Parkanlage, die sich bis hinunter zu den Flüssen zieht. Hier kann man’s aushalten. Das Jahr als europäische Kulturhauptstadt wird sicherlich großartig werden, die Stadt bietet so viel und vor allem so viel unterschiedliches.

     

 

Jetzt muss dann aber auch noch Vilnius drankommen. Also, anderthalb Stündchen Busfahrt und ich bin in Litauens Hauptstadt. Die war schon Kulturhauptstadt und strahlt in vollem Glanze. Unzählige Kirchen, eine große Altstadt mit kopfsteingepflasterten Gassen, das wiederaufgebaute Stadtschloss, wirklich viel zu sehen – aber nicht in der Leichtigkeit und Authentizität, die Kaunas ausstrahlt. Der Tourismus ist in Vilnius voll angekommen, vor allem asiatische Reisegruppen scheinen hier ihrem Traum vom alten Europa näher zu kommen. Selbst die Alternativszene ist bereits zur Sehenswürdigkeit geworden – die Künstlerkolonie Uzupis, die in den 90er-Jahren in ihrem Stadtteil ihre eigene Republik ausrief, deren Botschafter unter anderem der Dalai Lama ist, erscheint mir voll gentrifiziert – stylische Wohnungen und schicke Restaurants säumen die Straßen. Ihre Verfassung, die in 23 Übersetzungen an einer Mauer hängt, ist ein beliebtes Photomotiv für Touristen. Artikel 1 lautet „Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen“ und auch die restlichen 40 Artikel sind lesenswert.
Was ich nicht vergessen werde, ist eine virtuelle Reise durch die Zeit. Das großfürstliche Schloss wurde Ende des 19. Jahrhunderts zerstört und als Museum wieder neu aufgebaut. Gespart haben sie dabei an nichts, zwar nicht echt, aber museumspädagogisch hervorragend. Hätte ich mir alles angeschaut und durchgelesen, wüsste ich jetzt auch alles über die litauische Geschichte. Stattdessen habe ich mir eine 3D-Brille aufgesetzt und gesehen, wie das Schloss über die Jahrhunderte gebaut und dann zerstört wurde. So toll gemacht! Mein erstes richtiges 3D-Erlebnis. Die freundliche Museumsdame tippt mir kurz auf die Schulter, es gebe auch zwei Griffe, an denen man sich festhalten kann – gerade rechtzeitig. Denn ich stehe auf dem Schlossturm und blicke viele Meter tief hinunter, der Turm wächst sogar noch an, ich schaue nach links Richtung Fluss, drehe mich vorsichtig um, immer eine Hand an einem der Griffe. Echt ein klasse Erlebnis, dieser 3D-Ritt durch die Schlossgeschichte. Allein dafür lohnt sich das Museum!
In der wunderschönen Universitätsbuchhandlung kaufe ich mir später ein litauisches Kochbuch, jetzt kommen Rote Bete, saure Sahne und Dill auf den Speiseplan!

Alles in allem: Vilnius ist schön, keine Frage. Aber Kaunas ist spannend und bleibt es hoffentlich auch noch lange. Ich glaube, ich werde es für 2022 noch mal auf meine Reiseliste setzen. Kommt jemand mit?

 

 

Haff oder Ostsee?

Viel habe ich vom schönen Klaipeda leider nicht gesehen. Bestimmt wäre es spannend, hier länger auf die Suche nach der ostpreußischen Vergangenheit zu gehen. Ein Backsteingebäude mit der Aufschrift „Staatl. Lehrerseminar“, ein kleines Café, dass sich Memel Bäckerei nennt, die alte Dame, die mir auf meine doch recht einsilbige Frage „Apotek?“ antwortet: „Sie suchen eine Apotheke? Dort vorne links.“ und die Statue des „Ännchen von Tharau“ auf dem Marktplatz – all das macht mich eigentlich neugierig. Aber: ich hab ja diesmal keine zwei Jahre Zeit und die kurische Nehrung wartet. Ein Landstreifen vor der litauischen Küste, das kurische Haff auf der einen, die Ostsee auf der anderen Seite. Strände, die zu den schönsten Europas gekürt wurden, Dünen, Wälder, in denen Elche leben, verträumte Dörfer mit bunten Holzhäusern, Inspirationsort von Thomas Mann. All das hatte ich vorher gelesen, die Erwartungen waren hoch – und alles stimmt!

Fünf Minuten mit der Fähre von Klaipeda und das Naturparadies beginnt. Der Bus kurvt durch den Nadelwald, uns begegnen kaum Autos, denn die Nehrung ist Nationalpark und der Eintrittspreis für motorisierte Gefährte gesalzen – zum Glück. Ein kleiner Ort mit roten Holzhäusern, wieder hinein in den Nadelwald und dann hält der Bus in Pervalka. Das tut er nur drei mal am Tag, Pervalka ist noch kleiner als der Ort davor und nach zwei Minuten Fußmarsch stehe ich vor meiner Unterkunft. Adele – „like the english singer, you know?“ – kommt mir entgegen, begrüßt mich herzlich und zeigt mir mein kleines Bullerbü – ein freundliches helles Zimmer in einem roten Holzhäuschen mit blauem Balkon und weißen Fenstern. Die Schwalben nisten unter dem Dach, das Zimmer ist blitzesauber und alles wirkt ganz neu. Ich frage sie nach einem Fahrrad, krieg ich, und zehfreundlich radel ich zunächst mal nach links. Der Weg führt sofort in den Wald, es duftet heftig nach Nadelbäumen, der Weg wird sandiger, das kurische Haff leuchtet tiefblau, über dem Schilf fliegen Möwen – es ist herrlich! Von einer Minidüne aus sehe ich den roten Leuchtturm von Pervalka – wie perfekt. Ich lege mich in den warmen Sand, um mich herum zwitschert es. Das wird gut hier! Später folge ich dem sandigen kleinen Weg, der mich zu einer Bucht führt. In der Ferne leuchten riesige Dünen, das Haff plätschert, ich teste das Wasser, eisig….

Pervalka ist das kleinste Dorf auf der kurischen Nehrung mit gerade mal vierzig permanenten Einwohnern und es ist noch Vorsaison. Das einzige Restaurant im Ort hat zu und so hoffe ich auf den Dorfladen hinter meiner Pension. Der ist gut sortiert und hat erstaunliche Öffnungszeiten – von 7 bis 22 Uhr. Die freundliche Verkäuferin befindet, dass eine ganze Packung Butter zu viel für mich ist, schneidet sie in zwei Hälften und verpackt mir die eine. Ich kaufe Schwarzbrot, Gurken und Tomaten und besuche die Fischräucherei nebenan. Das mit mir und dem geräucherten Fisch ist so eine Sache, wir kauften früher immer geräucherten Aal, wenn wir meine Omi in Ratzeburg besuchten. Ich erinnere mich, wie ich zuhause auf der Geschirrspülmaschine saß, ich war etwa fünf, und genüsslich an einem ganzen geräucherten Aal zuckelte. Und ich fürchte, ich habe ihn komplett aufgegessen, mir war nämlich so schlecht, dass sich mir in den folgenden knapp 50 Jahren der Magen beim Geruch von geräuchertem Fisch jedes mal umdrehte. Aber der Mann in der Fischräucherei ist nett und ich will mehr als Butterbrot mir Gurke zum Abendbrot, also kaufe ich ein Stück Geräuchertes. Und setze mich auf meinen blauen Balkon, esse das traumhaft leckere Schwarzbrot und dazu den Fisch. Die Schwalben fliegen um mich herum und aufeinmal steht ein Fuchs vor mir. Oder eher eine Füchsin, man sieht ihre Zitzen. Als Stadtkind erschrecke ich mich erst mal, ein zutraulicher Fuchs, das ist doch Tollwut, oder? Adele kommt um die Ecke, ne, das ist Natur! Die Füchsin käme jeden Abend, sie habe fünf Junge und würde sich hier ihr Abendessen abholen. Eine hübsche Füchsin, zierlich, und mit freundlichem Blick.

Pervalka liegt etwa in der Mitte der kurischen Nehrung. Oder besser gesagt, des litauischen Teils der Nehrung. Der untere Teil gehört zu Kaliningrad und damit zu Russland. Also gibt es für mich am nächsten Morgen zwei Möglichkeiten: nach Süden oder Norden. Ich wähle erst mal den Süden und radle Richtung Nida. Der Radweg führt wieder durch Nadelwald, ab und an begegnen mir andere Radler, perfekt ausgestattet mit Spezialkleidung und Helmen. Ich lächele – die Distanzen auf der Nehrung sind kurz und 30 Kilometer krieg ich auch mit Jeans hin. Das frühere Nidden ist bekannt für seine große Düne und für Thomas Mann, der dort sein Feriendomizil hatte. Nida ist der belebteste Ort der Nehrung, aber immer noch ziemlich schläfrig. Ich habe erst mal Hunger, Nida ist etwa 15 Kilometer weg von Pervalka und bietet für mich das erste Restaurant. Ich probiere meinen ersten Kwas, ein Getränk aus vergorenem Roggenbrot, und bin sehr angetan. Das ist wirklich lecker! Und dann haben sie noch Leber mit Apfel und Kartoffeln auf der Karte, blöder Vegetarismus, her damit! So gestärkt besteige ich die Düne von Nida. Ich habe zuvor ja Bilder von der kurischen Nehrung gesehen, ihren Dünen und Stränden, aber das habe ich nicht erwartet. Ein riesiger Sandberg, riesig hoch und riesig breit. Und ich habe ihn fast für mich alleine. Ich stapfe durch den Sand, hoch und runter, schaue mich um, sieht mich keiner? Ne, außer ein paar Möwen ist da niemand, also springe ich einen Sandhügel runter, rolle durch den Sand und es ist toll! Man verliert hier leicht die Orientierung, also mache ich mich bald auf den Rückweg, der Zeh macht mit, und irgendwann erreiche die Holzplanken, die mich hinauf zu einem Aussichtspunkt führen. Die Küste macht nicht weit von hier einen Knick, es kommt mir ganz nah vor. Das ist schon Kaliningrad, sagt die Informationstafel, direkt vor mir ist die Grenze zu Russland. Immer noch ein komisches Gefühl, ich bleib halt ein Kind des Kalten Krieges.

Am nächsten Tag radel ich gen Norden nach Juodkrante. Mach vorher noch einen Abstecher an die Ostsee, sagt mir Adeles Mann. Stimmt, ich war ja bisher nur am Haff. Zwei Kilometer durch den Wald, dann bin ich am Ostseestrand. Und was für ein Strand! Endlos weit erstreckt er sich nach rechts und nach links, in der Ferne sehe ich ein paar Umkleidekabinen, aber ich habe den Strand komplett für mich allein. Selbst wenn sich in der Hochsaison einige Menschen tummeln – voll wird es hier sicherlich nicht. Ein Stündchen später steige ich auf mein Fahrrad und radle weiter Richtung Norden. Der Radweg führt Richtung Straße und ich sehe ein kleines Holzhäuschen. Muss ja was besonders Tolles sein, wenn dafür
Eintritt zu zahlen ist. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Wald stehe ich plötzlich in einer riesigen Dünenlandschaft. Sand so weit man blickt. Und wieder bin ich fast allein. Ich kraxele den Sandberg hinauf, etwa hundert Meter weiter liegt das kurische Haff unter mir, strahlend blau. Ich sehe meine Bucht vom ersten Abend, ganz dort hinten liegt Pervalka. Die Düne ist imposant, aber auch tragisch. Zwei Dörfer liegen hier begraben, der Sand kam Jahr für Jahr näher und schluckte die Häuser komplett. Die Sandflüchtlinge gründeten dann Pervalka und bis dahin schafft es der Treibsand sicherlich nicht. Jedenfalls nicht solange ich da bin.

Langsam macht sich bei mir der Hunger deutlich bemerkbar, bis Juodkrante und dem nächsten Restaurant ist es noch ein Stückchen. Also weiter und ein Stündchen später tauchen bunte Holzhäuschen auf. Ein freundliches Restaurant am Wasser ist schnell gefunden und nachdem der Kwas so gut war, probiere ich die litauische Spezialität schlechthin – kalte Rote-Bete-Suppe. Hellrosa leuchtet mir das Süppchen entgegegen, etwas skeptisch bin ich schon und dann: WOW! Das ist wirklich lecker!!! Rote Bete und Gurkenstreifen in Kefir, ganz viel frischer Dill obendrauf und dazu warme Kartoffeln. Das perfekte Sommeressen, sehr sehr empfehlenswert. Das werde ich in mein Kochrepertoire aufnehmen.

Satt und glücklich mache ich mich auf an den Ostseestrand von Juodkrante, der perfekte Ort für einen kleinen Verdauungsschlaf. Es ist schon recht spät mittlerweile, aber die Sonne geht hier ja erst nach 10 unter mit kurzer Dämmerung, da kann man ruhig auch mal erst spät zurückradeln. Und außerdem habe ich ja die vage Hoffnung, vielleicht einen Elch zu sehen. Im Wald vor Pervalka sollen die Chancen ganz gut stehen. Gegen halb 8 bin ich dort, schaue, lausche – da hinten vielleicht? Ein Reh. Ich warte weiter, kein Elch. Dann geh ich halt zu meiner Füchsin zurück. Das sind die Entscheidungen, die hier anstehen – nach Norden oder Süden, an die Ostsee oder ans Haff, Reh oder Fuchs. So schön, diese kurische Nehrung!

 

 

On the road again

Ich bin wieder unterwegs. Zwar nicht mit der Aussicht auf eine Weltumrundung und in drei Wochen werde ich wieder zuhause sein, aber ich habe Zeit, zwei Länder zu erkunden, die mich immer schon gereizt haben: Litauen und Lettland. Und seit Rumänien hat es mir der Osten Europas ja sowieso angetan. Julia geht an Bord – kein Flugzeug diesmal, sondern ein Schiff. 20 Stunden von Kiel nach Klaipeda, dem früheren Memel, immer entlang der Ostseeküste.
Aber vorher mache ich einen Abstecher nach Bremen. Fast meine Geburtsstadt, wären meine Eltern nicht im Januar 1965 von dort weggezogen. Ahnenforschung ist ja mein großes Thema und über all die alten Urkunden und verstaubten Dokumente habe ich fast die Lebenden aus dem Blick verloren. Meine Cousine Kerstin ist meine nächste noch lebende Verwandte und wir haben uns das letzte Mal vor über zwanzig Jahren gesehen.
Bremen hält trübes Wetter für mich parat – aber die Deutsche Bahn hat das wahrscheinlich gewusst und erspart mir zwei Stunden norddeutscher grauer Suppe. Allerdings hätte ich mit denen was besseres anzufangen gewusst, als in verspäteten Zügen herumzuhängen. Ach, und es waren nicht zwei, sondern nur eine Stunde 50 Minuten. Ab zwei Stunden hätte ich nämlich die Hälfte des Reisepreises zurück bekommen und wir wollen doch mal korrekt sein.
Egal, ich habe zwei Nächte in Bremen und am ersten Abend reicht es immerhin für Pannfisch auf dem Bremer Rathausmarkt. Der Roland hat immer noch so spitze Knie wie früher, aber das würde mir heute gar nicht mehr auffallen. Als Kind endete mein Blick an diesen Pieksern und auch den gesamten Rathausmarkt habe ich viel größer in Erinnerung.
Diese unterschiedliche Wahrnehmung wird dann auch den nächsten Tag dominieren – wie anders Kerstin und ich doch viele Ereignisse unserer Kindheit in Erinnerung haben. Ob wir uns wohl wieder erkennen, fragte Kerstin am Telefon. Sofort und ohne Zweifel! Wir versichern uns gegenseitig, wie gut wir uns gehalten haben, klasse Gene halt 🙂 Geplant war ein gemeinsamer Kaffee, nach fast acht Stunden schöner und nicht so schöner Geschichten und einigen Alsterwassern trennen wir uns schweren Herzens und versprechen, den Kontakt jetzt nicht mehr abreißen zu lassen.
Mein nächstes Ziel ist Kiel. In Hamburg treffe ich Coco für einen kurzen Essensstopp. Ich hatte es schon zur Tradition werden lassen, jede Gelegenheit für einen Backfisch bei Daniel Wischer in der Spitaler Straße zu nutzen. Meine sporadischen Hamburg-Besuche haben ihn aber wohl nicht retten können, der Laden heißt jetzt „Ahoi by Steffen Henssler“ und der Typ geht mir schon im Fernsehen gehörig auf den Keks. Natürlich leiht er dem Restaurant nur seinen Namen, aber vielleicht sollte er ab und an vorbei schauen, seine Leute haben es leider nicht im Griff. Muss ich natürlich auch TripAdvisor schreiben :-). Aber es geht jetzt ja um Schöneres, nämlich um Litauen!
In Kiel trennen mich nur eine kurze Busfahrt und ein Spaziergang vom Ostuferkai, an dem das Schiff nach Klaipeda am Abend ablegt. Nur ganz wenige Passagiere reisen ohne fahrbaren Untersatz. Ich marschiere mit meinem Trolley an der langen Schlange der wartenden Autos vorbei und nach kurzer freundlicher Abfertigung warte ich mit drei anderen Passagieren in einem Terminal, das größer als der gesamte Flughafen auf Rodrigues ist. Aber immer noch sehr überschaubar. Wir kriegen einen eigenen Shuttle-Bus und ich betrete das Schiff als erste. Rolltreppen bringen mich nach oben zur Rezeption, ja, die Zeiten, in denen ich den billigen Pullman-Seat gebucht hätte, sind vorbei, ich habe eine Kabine reserviert. Ich tausche meine Bordkarte gegen den Kabinenschlüssel und besichtige meine Koje. Sehr nett, ein gemütliches Bett, blütenweiß bezogen unter einem großen Fenster, ein kleines Bad, ein Obstkorb, der Rezeptionist war jetzt zwar nicht Sascha Hehn, aber ich bin zufrieden. Noch wartet aber Spannenderes auf mich. Die Beladung des Schiffes ist im Gang und in einer dreiviertel Stunde legen wir ab. Vom Hubschrauberdeck aus beobachte ich, wie die Lastwagen, Wohnmobile und Autos auf das Schiff sortiert werden – das hat was von Tetris. Hier bitte wenden, da bitte rückwärts rein, schnell ausgestiegen, denn der nächste wird versuchen, Türgriff an Türgriff zu parken. Und dann ist das Deck unter mir voll. Klappe hoch, Motoren an, Liegezeiten scheinen auch hier teuer zu sein. Noch vor neun tuckern wir hinaus auf die Kieler Förde. Die Aida überholt uns, ja jetzt aber! Die Sonne geht über Kiel unter, ich kenne schönere Städte, aber ein freundlicher letzter Eindruck von Deutschland.
Schnell sind wir auf der offenen Ostsee, jetzt ist Zeit für ein erstes litauisches Bier. Die Preise an Bord sind zivil, drei Euro für eine süffige Halbe, deren Namen ich leider trotz mehrfachen Vorsprechens der Dame an der Bar nicht richtig hinbekomme. Ganz was anderes, dieses litauisch. Eindeutig östlich, aber auch skandinavisch. Jedenfalls versteht man kein Wort. Zum Glück sind die Ansagen an Bord auch auf deutsch und englisch. Draußen wird es langsam kühl, ich freue mich auf meine gemütliche Kabine, schlafe dann aber ziemlich schlecht und wache früh auf. Vielleicht ist es die laute Lüftung oder die frühe Helligkeit am nächsten Morgen, aber egal. Frühstück gibt es um diese Zeit noch nicht, aber gestern Abend hatte ich einen Kaffeeautomaten im Restaurant gesehen. Für einen Euro spuckt er ein ziemlich widerliches Gebräu im Plastikbecher aus. Später gibt’s dann ein freundliches Frühstücksbuffet und leckeren Kaffee, da ist die Plörre wieder vergessen. Was die Victoria Seaways vom Traumschiff eindeutig unterscheidet, ist das fehlende Outdoor-Entertainment. Ein paar Bierbänke oberhalb der Fahrzeuge, über dem riesigen Hubschrauberdeck lacht zwar ab und an die Sonne, aber sitzen kann man nur auf dem Boden. Damit jederzeit ein Hubschrauber landen kann, wahrscheinlich 🙂 Die Sicht ist schlecht, alles recht dunstig und dabei hatte ich doch gehofft, einen Blick auf Hinterpommern werfen zu können. Nix da, das erste Land sehe ich kurz vor Klaipeda. Erst die Industrieanlagen des Hafens und dann den Landstreifen der kurischen Nehrung. Eigentlich rieche ich ihn eher, es duftet nach Nadelbäumen. Wir legen an und die Entladung geht ebenso schnell und professionell wie in Kiel vonstatten. Der Taxifahrer verlangt 10 Euro bis zu meinem Hotel, zu viel, das ist mir klar, aber ich habe keine Lust, mich zu ärgern. Eine kleine Pension in der Nähe der Altstadt, dahin mache ich mich sofort auf. Im Laufen merke ich immer deutlicher, dass mein Fuß zwickt, der rechte „Zeigezeh“, ich hatte schon gestern gemerkt, dass er blau und grün ist. Keine Ahnung, was da passiert ist, wird schon wieder weggehen. Die Altstadt von Klaipeda, dem früheren Memel, ist überschaubar. Aber ich bin zu müde und hungrig für Sightseeing, nehme gerade mal den Marktplatz in Augenschein, morgen ist ja auch noch ein Tag.

Wenn krank, dann hier

Und der beginnt mit der Gewissheit, dass das nicht gut ist mit dem Zeh. Es tut weh. Ziemlich weh. Was ist denn da nur passiert? Ist der wohlmöglich gebrochen? Neben der Pension ist eine kleine Klinik. Ich beschließe, da mal nachzufragen. Wenn sie schon in der Nachbarschaft ist. Mit Englisch kommt man in Litauen nur bedingt durch, aber von meinem letzten Zahnarztbesuch bei der Inseldoktorin in Costa Rica weiß ich ja, dass Google Translate die Lösung ist. Deswegen tippe ich präventiv „Ich glaube, ich habe mir den Zeh gebrochen“ ein und trage offene Sandalen, um das blaue Exemplar präsentieren zu können.
Die Krankenschwester erkennt meine Not, gibt mir aber zu verstehen, dass ich nicht in der richtigen Klinik sei. Also humple ich ein paar Straßen weiter, zeige wieder mein Handy mit dem Text und den Fuß vor und treffe auf eine gut englisch sprechende Schwester. „I think we can help you“, sagt sie aufmunternd. Eine Stunde später ist der Fuß geröngt, der Zeh ist nicht gebrochen, dafür jetzt aber an seinem Nachbar festgeklebt, ich habe ein Rezept für ein Schmerzmittel und eine Salbe, bin sehr erleichtert und ziemlich angetan von der litauischen Krankenversorgung. War eine ziemlich menschliche Atmosphäre dort, der Arzt hat sich Zeit genommen, das Röntgenbild ganz intensiv betrachtet und mir ein gutes Gefühl gegeben. Ich kann ruhig laufen, halt den Fuß abends hochlegen und dann gäbe es ja noch dieses Schmerzpulver. Das wirkt Wunder, der Zeh zwickt zwar noch, aber kein Problem.
Das war also meine Klaipeda-Erfahrung. Schade, ein nettes Städtchen mit viel maritimem Flair. Aber ich muss weiter, die kurische Nehrung mit ihrem verführerischen Duft wartet auf mich. Mal schauen, ob das auch dem Zeh gefällt.

 

 

Eiskalt im Osten

Mein erster Urlaub nach der großen Reise sollte gleich drei Wünsche auf einmal erfüllen: eine neue Stadt kennenlernen, der lieben Coco ins neue Lebensjahr verhelfen und meine Ahnungsforschungsgelüste befriedigen. Alles zusammen an einem Ort geht nur beim Überraschungsei, also erst Neapel, dann Hamburg und zuletzt Magdeburg. Und mit jedem Kilometer sanken die Temperaturen….
Neapel verabschiedete uns mit Schnee. Nicht viel, aber genug, um den Flugplan komplett auf den Kopf zu stellen. Mit einstündiger Verspätung saßen wir in der Maschine nach Brüssel – Umsteigezeit 45 Minuten. Ich sah uns schon mit Muscheln und Pommes auf dem Grote Markt ohne Jonathan auf Cocos Geburtstag anstoßen, als die freundliche Stewardess uns eröffnete, dass unser Flugzeug genau das sei, das für den Weiterflug nach Hamburg vorgesehen wäre. Also alles gut.
Den Geburtstagsmitternachtssekt gab’s wie geplant im schönen Norden und obendrauf dann einen Geburtstagsmorgenspaziergang im Winterwonderland – dem idyllisch verschneiten Alstertal. Kalt natürlich, aber eben winterschneekalt unter strahlend blauem Himmel. Und nichts gegen die Arktis, in die ich mich dann aufmachte.

Eine Direktverbindung Hamburg – Magdeburg gibt es nicht. Ist ja jetzt nicht so ungewöhnlich, aber als ich dann auf dem Bahnhof von Wittenberge feststellte, dass es ab hier mit der S-Bahn weiterging, war ich doch überrascht. Magdeburg ist ja immerhin die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt. Aber egal, die Bahn war warm und mit erstaunlich gutem WLAN ausgestattet, und so bekam ich ja noch mehr zu sehen, vom Osten.

Meine Mutter wurde in Magdeburg geboren. Wirklich viel davon gesehen hat sie aber sicherlich nicht, sie kam 1941 mitten im Krieg auf die Welt. Der Stempel auf ihrer Geburtsurkunde trägt ein Hakenkreuz und vor den großen Luftangriffen auf Magdeburg flüchtete die Familie aufs Land. Da war meine Mutter wahrscheinlich drei oder vier Jahre alt. Am 16. Januar 1945 wurde Magdeburg von britischen Bombern zerstört. Der Angriff wird als einer der verheerendsten Luftangriffe auf eine deutsche Stadt bezeichnet.  Die Altstadt brannte mehrere Tage und für meine Großeltern gab es nichts mehr, wohin sie hätten zurück kehren können.
Das alte Magdeburg hat sich städtebaulich von dieser Zerstörung nie mehr erholt. Was die Bomben übrig gelassen hatten, fiel erst dem Sozialismus und später dem Kapitalismus zum Opfer. Der Breite Weg, früher eine der schönsten Barockstraßen Deutschlands, ist heute gesäumt von gesichtlosen Einkaufszentren und umgestalteten Plattenbauten. Alles auf den ersten Blick nicht so ganz das Ambiente für eine atmosphärische Familienforschung.

Also erst mal raus auf’s Land. Nach der Evakuierung aus Magdeburg ließ sich die Familie Werner – meine Großeltern, meine Mutter und meine zwei Tanten – in Haldensleben nieder, einem kleinen Städtchen mit etwa 20.000 Einwohnern, 30 km von Magdeburg entfernt. Die Eltern meiner Großmutter lebten dort, Georg Werneburg war der städtische Gendarm. Das Wohnhaus am Holzmarkt steht heute noch, so wie fast alles in Haldensleben. Ein freundliches kleines Städtchen und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, ein idealer Ort für eine Radtour am Bördekanal oder einen langen Spaziergang durch die platte Landschaft. Und zu Kriegsende sicherlich ein wesentlich besserer Ort als das zertrümmerte Magdeburg.
Die Familie Werner schien noch einigermaßen glimpflich durch den Krieg gekommen zu sein – nur Rudolf, der Bruder meiner Großmutter, blieb vermisst und wurde 1949 für tot erklärt. Die Zeichen standen auf Neuanfang, da nahm sich mein Urgroßvater Georg Werneburg, Gendarm im Ruhestand, am 16. Oktober 1945 das Leben. Kopfschuss steht in der Sterbeurkunde und wie so vieles wurde sein Tod in meiner Familie nie thematisiert. Die massenhaften Selbstmorde am Ende des zweiten Weltkrieges wurden erst vor ein paar Jahren öffentlich aufgearbeitet. „Kind, versprich mir, dass Du Dich erschießt“ heißt das Buch von Florian Huber, das den „Untergang der kleinen Leute“, so der Untertitel, schildert. Die Angst vor Deportation und Vergewaltigung war eine Ursache, aber auch die Verzweiflung darüber, dass alles, woran man geglaubt hatte, untergegangen war. Und auch die Angst davor, vom neuen System für die Verbrechen des alten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Was auf meinen Urgroßvater, den Polizisten, zutraf, weiß ich nicht. Ich bezweifele auch, dass ich es jemals erfahren werde. Georg Werneburg hat in den Archiven wenig Spuren hinterlassen. Das lässt natürlich Raum für Fantasie, gerade angesichts seines Berufes.
Trotz dieser Tragödie fasste die Familie Werner schnell Fuß in Haldensleben. Mein Opa eröffnete ein 1946 ein Büro für Buchprüfungen und übernahm kurz darauf die Geschäftsführung eines Düngemittelbetriebes. Anfang der 50er Jahre aber hatten sie sich entschieden – sie wollten weg, in den Westen. Die Flucht war gut vorbereitet, mein Opa kaufte noch rasch zwei Grundstücke, sogar einige Möbelstücke nahmen sie mit und am vornehmen Osterdeich in Bremen begannen sie zum dritten Mal ein neues Leben.

Zu Lebzeiten meiner Verwandten habe ich nie nachgefragt, woher sie kamen und wer noch alles zu ihnen gehört hat. Magdeburg schien damals weiter entfernt und schwerer erreichbar als Australien. Es gab sie, die Ostverwandtschaft, an die ich als Kind die Pakete auf die Post trug, aber ich dachte, Tante Annelise aus Plauen mit ihrer Familie sei die einzige gewesen. Dass meine Großmutter noch zwei Geschwister im Osten hatte, ihre Mutter und die meines Opas erst Jahre später dort starben, weiß ich erst seit kurzem. Die Trennung von ihrer Familie war für meine Großeltern endgültig – so weit ich weiß, wurde ihnen nie wieder die Einreise in die DDR erlaubt. Schon unglaublich, dass ich heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, einfach so durch Haldensleben laufen kann, vorbei an ihrem Wohnhaus, um die Ecke vom früheren Büro meines Opas. Zumindest in Haldensleben, wo sich die Altstadt kaum verändert hat, kommt trotz der eisigen Kälte ein wohliges Gefühl auf.

In Magdeburg hat die Sentimentalität wenig Chancen. Selbst jemand, der zu DDR-Zeiten hier gelebt hat, wird seine Stadt nicht überall wieder erkennen. Und da es sowieso viel zu kalt ist, um durch die Straßen zu laufen, verbringe ich die Zeit lieber in gut geheizten Archiven bei sehr freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeitern. Im Stadtarchiv wühle ich mich durch alte Adressbücher und stelle fest, dass mein Opa, für mich immer Kaufmann durch und durch, sein Berufsleben zunächst als Finanzbeamter startete. Solche Brüche scheinen sich durch sein Leben gezogen zu haben – vom 300-Seelendorf in Sachsen über die Großstadt Magdeburg zurück in die ländliche Idylle und dann hinein in die Ungewissheit des Westens, die sichere Beamtenlaufbahn gegen verschiedene Posten als Kaufmann getauscht. Prokurist im Sudenburger Brauhaus war er und kurz bevor ich Magdeburg wieder verlasse, zwar mit vielen Ausdrucken aus den Archiven, aber nur wenigen Bildern im Kopf, finde ich es dann doch noch einen kurzen Eindruck vom Magdeburger Leben meiner Familie. Vor der Kälte fliehe ich in einen Edeka am Breiten Weg. Vor 1945 war hier die Katharinenkirche, Teile ihres Portals stehen eingequetscht von klobigen Neubauten. Im Hauseingang des Supermarktes sind Bilder aufgehängt, Magdeburg vor der Zerstörung. Der Breite Weg, so wie er vor 1945 ausgesehen hat. Das Bild eines Lokals, „Korte’s Bierausschank“, davor eine Brauereikutsche mit zwei Pferden, unter der Ladefläche ist ein Schild angebracht „Sudenburger Brauhaus“. In Gedanken sehe ich meinen Großvater am Fenster der Brauerei stehen, jemand ruft zu ihm herauf „Fünf Fässer Helles für Korte“, lachend prostet er mit einem frisch gezapften Sudenburger Pils zurück – ne, so kitschig war es garantiert nicht. Dem alten Werbespruch „und nach der Arbeit trinken wir das gute Sudenburger Bier“ folgend, genehmige ich mir am Abend ein Gläschen und stoße auf Opa an.

Das war also der genealogische Teil meiner Kurzreise. Touristisch hat mich die Kälte ziemlich lahm gelegt. Ein kurzer Gang zum Dom, dem ältesten gotischen Bauwerk in Deutschland, ein fröstelnder Bummel über den Domplatz hinunter zur eisschollenbedeckten Elbe, ein bibbernder Besuch des alten Marktplatzes, ein Kaffee im Hundertwasserhaus – mehr hat bei der eisigen Kälte keinen Spaß gemacht. Eine Stadt ohne echte Altstadt, aber sicherlich mit Flair, wenn es 30 Grad mehr hat. Jetzt nicht unbedingt ein touristisches Highlight, aber ein paar Tage kann man hier schon verbringen. Auf dem Weg in die Archive komme ich auch durch Stadtteile, die andere Eindrücke vermitteln und Lust auf Entdeckungen machen. Die Magdeburger Neustadt mit ihrem wunderhübschen, aber leider vollkommen verwahrlosten Backstein-Bahnhof scheint eher auf dem absteigenden Ast zu sein, Stadtfeld dagegen ist ein spannender Mix aus toll renovierten Gründerzeithäusern und DDR-Plattenbauten. Ich werde noch mal her kommen, wenn es viel viel wärmer ist und ich die vielen vielen Ausdrucke aus den Kirchenbüchern ausgewertet habe. Eine neue Spur scheint nach Greiz in Thüringen zu führen. Ich freu mich schon heute auf einen neuen Ort und bin gespannt, wo mich meine Vorfahren noch so hinführen werden.

Bella bagnata Napoli

… heißt hoffentlich so viel wie schönes nasses Neapel. Aber mein Italienisch ist ziemlich eingerostet. Oder eher abgegluckert.

Wir saßen im frühlingshaften Zypern, Coco und ich, als wir uns vor zwei Jahren dort trafen, auf unserer großen Reise. Das sollten wir öfter machen, dachten wir uns. Eine sonnige Flucht aus dem kalten Deutschland. Letztes Jahr klappte es nicht, aber dieses Jahr, da wollten wir dem Frühling entgegen reisen. Andalusien oder Israel oder vielleicht doch eine sonnige Insel? Mehr als ein verlängertes Wochenende hatten wir nicht und ein bisschen Kultur wollten wir und gutes Essen und leckeren Wein – das schreit doch nach Italien. Und unten im Süden, wo die Zitronen blühn und die Goldorangen glühn, da wird es doch niemals kalt, oder?
Also auf nach Neapel. Südlicher als Rom habe ich es noch nie geschafft und den Vesuv und Pompeji wollte ich immer schon mal sehen. Coco ging’s genauso und so flogen wir gemeinsam in den Süden. Und ja, kaum waren wir der Metro entstiegen, lud uns schon eine kleine Espressobar zu unserem ersten italienischen Kaffee ein. So richtig warm wars noch nicht, aber wir konnten draußen sitzen. Und dann waren wir mittendrin in der Altstadt von Neapel, in unserer kleinen Wohnung in einer engen Gasse, viele viele gute Restaurants um uns herum, ein Fläschchen Rotwein vom Vermieter – was konnte da schief gehen?
Richtig schief gegangen ist eigentlich nichts, unsere Stimmung hielt sich, der Wein floss – aber eben auch der Regen. Und wenn es im Frühjahr in Neapel regnet, dann richtig. In Strömen und lange und gerne auch mal mehrere Tage hintereinander. Schnell war klar: das wird ein Urlaub der überdachten Attraktionen. Neapel hat davon genügend für mehrere Tage und so starteten wir gleich mit dem größten Abstand zum tropfenden Himmel – Napoli Sotterranea, dem gigantischen Katakomben-Gewirr 40 Meter unter Neapel. Die Griechen buddelten hier zuerst, um Steine für den Häuserbau aus der Erde zu klopfen, dann kamen die Römer und nutzten die Gänge für ein Abwassersystem, später kippte man Müll hinein und als eine große Cholera-Epedemie im 19.Jahrhundert tausende von Tote in der Stadt forderte, wurden die Zugänge erst mal dicht gemacht. Im Zweiten Weltkrieg brauchte man die Unterwelt als Bunker und seit einigen Jahren wird das Ganze vor allem touristisch genutzt. Über 400 km winden sich unter der Stadt, manche Gänge so schmal, dass man nur noch seitlich vorankommt und bis vor kurzem bekam noch jeder eine tropfende Kerze zur Beleuchtung in die Hand. Heute sind es LED-Kerzen oder gleich Handylampen, aber der Charme bleibt bestehen. Als wir den grauen Himmel wieder erblicken, geht es um die Ecke in die ehemalige Wohnung einer neapolitanischen Familie. Jahrzehnte nutzen sie einen vermeintlichen Keller unter ihrem Bett, um Wein zu lagern. Dann entpuppte sich der Keller als Eingang zu einem riesigen antiken Theater und das war’s dann mit der Wohnung. Die Familie musste gehen, die Einrichtung blieb, damit man den staunenden Touristen zeigen kann, was zum Vorschein kommt, wenn man das Bett abrückt und die Klappe darunter öffnet.
Was macht man sonst so in einer Stadt, in der es permanent regnet? Gemütlich in Cafés sitzen, wäre grundsätzlich eine meiner Antworten. Aber Neapel ist nun mal eine Stadt, in der es meistens warm ist und das Leben unter freiem Himmel stattfindet. Und wo man dann eben auch draußen sitzt. In den Cafés gibt es meist den typischen Tresen, an dem man Espresso schlürft und ein paar mittelmäßig bequeme Stühle. Aber nur sehr selten gemütliche Sessel, in denen man ein Stündchen verbringen möchte. Aber was soll’s, die Museen sind auch sehr sehenswert.
Wir bekommen im Archäologischen Nationalmuseum einen ersten Eindruck, was uns in Pompeji erwarten wird. Die Statuen und vorallem die Alltagsgegenstände zeugen von einer sehr weit entwickelten Kultur. Staunend stehen wir vor allem vor den Glasgefäßen – so was gab es um 70 nach Christus? Einiges könnte durchaus aus dem Haushaltswarenladen um die Ecke sein. Ganz schön fit, diese Römer. Der Duomo und das Museum mit Werken von Caravaggio beeindrucken mit ihrer barocken Pracht und am Ende des Tages wartet ja immer noch ein Highlight: der Besuch einer Trattoria oder Pizzeria. Ein eigentlich immmer hervorragender Vino di Casa, mal weiß, mal rot stimmt uns auf die Köstlichkeiten der neapolitanischen Küche ein, die Antipasti sind einmalig, die Pasta außergewöhnlich (z.B. weiße Bohnen und Meeresfrüchte, eine wilde, aber durchaus stimmige Kombination), aber natürlich muss es auch eine Pizza sein. Sie ist lecker, aromatisch, laut Reiseführer eine der besten der Stadt und in typisch italienischem Ambiente – aber trotz Holzofens habe ich schon knusprigere gegessen. Doch die Hauptsache ist ja eigentlich, dass sie hier erfunden wurde, die Pizza. Oder war es doch eher in den Straßen von New York?

Und dann Pompeji. Wir haben uns den einzigen regenfreien Tag ausgesucht, dafür bläst ein kalter Wind, der uns allerdings auch vor Touristenmassen schützt. Eine halbe Stunde mit der Vorortbahn und man kommt direkt am Haupteingang heraus. Im Besucherzentrum kriegt man einen digitalen ersten Eindruck. Eine komplett erhaltene Kleinstadt, konserviert für die Ewigkeit.
Vor einigen Jahren habe ich mit Begeisterung Aufbauspiele am PC gespielt, aus ein paar mickrigen Zelten wurde im Laufe der Tage eine riesige römische Stadt, mit Amphitheater und allem drum und dran. Hatte man aber nicht rechtzeitig für ausreichend Tempel, Badeanstalten und Marktplätze gesorgt, wurde es nichts mit der Pracht. Und jetzt laufe ich durch eine Stadt, die hierfür das perfekte Vorbild ist. Nur der große feuerspeiende Berg, den gab’s in meinem Spiel nicht.
Die Pompejianer haben es sich sehr schön gemacht in ihrer Stadt. Aufwändig dekorierte Häuser mit Innenhöfen, die Straßen gesäumt von kleinen Läden, Brunnen an jeder Ecke,
Tempel, Theater und das meist mit grandiosem Blick entweder auf das Meer oder die Berge. Denn der Vesuv, der heute ganz brav mit einem kleinen Wölkchen über dem Gipfel da steht, ist nicht der einzige Berg in der Umgebung. Vieles wirkt so, als sei es vor gar nicht allzu langer Zeit verlassen worden. Der Backofen in einem Haus sieht aus, als könne er mit ein bisschen Holz sofort beste Pizza produzieren, manche Bodenmosaike sind vollständig erhalten und in der Therme scheint nur ein wenig sprudelndes Wasser zu fehlen. Es ist schade, dass es nicht wärmer ist, man sich eine Weile hinsetzen und die Phantasie spielen lassen kann, wie es wohl war, das Leben in Pompeii vor 1000 Jahren. Den Tod kriegt man an einigen Stellen vor Augen geführt, die Gipsabdrücke der Bewohner geben einen Eindruck vom tragischen Untergang der Stadt. Mich fröstelt noch etwas mehr.

Am Tag drauf schneit es dann. Dicke Flocken segeln an unserer Balkontür vorbei und auf einigen Autos liegen mehrere Zentimeter Schnee. Es ist Zeit zu gehen… 

Ach ja, und während ich dieses schreibe, scheint mir die Frühlingssonne auf den Kopf, meine Reisehängematte aus Amerika passt perfekt auf meine kleine Dachterrasse und ich baumle in der Wärme Stuttgarts. Bissle schlechtes Timing war das schon mit Neapel, aber toll war’s trotzdem.

Er ist wieder da

Unglaublich. Nach fünf Tagen hat Eric endlich seinen Koffer wieder. Noch unglaublicher: der Koffer hatte sich in Frankfurt versteckt. Wie er da hin kam – sein Eigentümer flog von Stuttgart über München nach Delhi – weiß wohl nur Lufthansa. Und am allerunglaublichsten: dass Lufthansa ihn just dann findet, wenn wir ein bisschen frecher auf ihrer Facebook-Seite werden. Da lag also der Koffer vier Tage lang mit unverletztem Gepäcktag – dem Klebestreifen, auf dem alle notwendigen Daten deutlich zu erkennen sind – irgendwo in Frankfurt rum. Ab wann fangt ihr in Frankfurt eigentlich an, euch zu wundern, Lufthansa? Über einen Koffer, der erkennbar nach Delhi möchte? Offensichtlich erst, wenn die Kommentare auf eurer Facebook-Seite nervig werden.

Eric ist natürlich erst mal glücklich. Wäre ich an seiner Stelle auch. Fünf Tage ohne Gepäck in Indien, das ist schon was. Der Frage, ob Lufthansa ihn entschädigt, für die Ersatzeinkäufe, vor allem die Sachen, die er jetzt doppelt hat, oder gar für die ganze Nerverei, die ihn Tage seines Urlaubs gekostet haben, wenden wir uns später zu. Ich habe aber die dumpfe Ahnung, dass das wieder nicht ohne Schwierigkeiten ablaufen wird.

Wir sind wieder um eine Erfahrung reicher geworden. Es macht mittlerweile keinen Unterschied mehr, ob man sich für einen Billigflieger oder eine etablierte Fluglinie entscheidet. Verloren gehen kann bei beiden etwas. Aber wir dachten bisher, dass man bei einer Fluglinie wie Lufthansa bei Problemen einen ganz anderen Service bekommt als bei den billigen. What you pay is what you get, dachten wir. Ist aber nicht so. Lufthansa hat nicht einmal mehr die Struktur, um zu helfen. Callcenter mit Endloswarteschleifen, Mailadressen, die nur bei einem schnell sind: der Meldung, dass sie überlastet sind. Ob das Konzept so aufgehen wird? Haben sich wahrscheinlich die gleichen Experten ausgedacht, die meinen, die Lofoten bewerben zu müssen, diese lufthansafreie Zone.
Also, der Koffer ist da, danke fürs Mitbibbern! Das Abenteuer Rajasthan kann jetzt endlich unbeschwert beginnen und ich freu mich schon auf tolle Photos!

 

 

 

 

Jäger des verlorenen Koffers

Während ich mich in der Eingewöhnung in das normale Leben noch übe, ist ein anderer Globonaut, der diese Phase schon hinter sich gelassen hat, wieder aufgebrochen in die Welt. Eric ist in Indien, einem unserer Lieblingsreiseziele. Auf unserer Weltreise haben wir es nicht dort hin geschafft, immer standen andere, noch unbekannte Länder auf dem Plan. Aber Indien bleibt eine große Liebe und so hat er sich am Sonntag zum mittlerweile sechsten Mal in dieses unglaubliche Land aufgemacht. Incredible India, selten ist ein Werbespruch so passend. Ich bin froh, dass er mit Rajasthan ein Ziel gewählt hat, dass wir schon gemeinsam bereist haben, sonst wäre ich wahrscheinlich zu neidisch. Er wird sicherlich noch ein tolles Photoalbum in die GloboPics einstellen. Aber derzeit ist er leider mit etwas ganz anderem vollauf beschäftigt.
Viele Menschen haben großen Respekt vor Indien als Reiseland. Kann ich gut verstehen, hatte ich vor meiner ersten Indienreise auch. Die vielen Menschen, die Armut, die hygienischen Verhältnisse, die komplette Andersartigkeit des Landes und der Gesellschaft gemessen an europäischen Maßstäben – ja, das trifft alles zu. Aber all das macht Indien auch so faszinierend, so wunderbar, dass jede Durchfallerkrankung, jede endlose Fahrt in holprigen Bussen oder langsamen Zügen, jede Distanzlosigkeit der Menschen es wert ist – Indien belohnt mit unglaublichen Eindrücken, phantastischer Architektur und Natur, wunderschönen Menschen und dem leckersten Essen.
Und obwohl auf den ersten Blick alles sehr chaotisch wirkt, irgendwie klappt in Indien dann doch alles – wenn man es nicht mit einer deutschen Fluglinie zu tun bekommt…
Das Drama in einer noch nicht bekannten Zahl von Akten beginnt am späten Sonntag Abend am Flughafen von Delhi, wo Eric nach langem Anstehen an den Einreiseschaltern endlich zum Gepäckband vordringt und seinen Koffer nicht findet. Das Band dreht eine Runde und noch eine und noch eine, aber der Koffer bleibt verschwunden. So etwas kann passieren, wir haben das schon ein paar Mal erlebt, der Koffer hat es nicht ins gleiche Flugzeug geschafft und wird dann meist am nächsten Tag nachgeliefert. Bissle ärgerlich, weil man sich nach einem langen Flug ja auf eine gute Dusche und frische Klamotten freut, aber auszuhalten. In diesen Dingen durchaus erfahren meldet Eric den Verlust am entsprechenden Lufthansa-Schalter im Flughafen, seine Daten werden aufgenommen, er bekommt einen Durchschlag des Formulars mit einer Telefonnummer, bei der er sich erkundigen kann, ein kleines Päckchen mit Waschsachen und ein Polyacryl-T-Shirt. Noch ist er frohen Mutes, nimmt ein Taxi hinein ins nächtliche Delhi und fällt ins Bett. Am nächsten Morgen greift er zum Telefon und ruft die Nummer an, die Lufthansa ihm gegeben hat. Es klingelt ewig, er versucht es ein zweites, ein drittes Mal, niemand nimmt ab. Es ist Feiertag in Indien, Gandhis Geburtstag, nun denn, irgendwann wird schon jemand dran gehen. Denkt er. Er berichtet mit per Mail von dem Ganzen und ich fange – mit einer deutlich besseren Internetverbindung als er – mal an zu recherchieren. Ah, da gibt es ein Portal im Internet, auf das Lufthansa verweist, da kann man den Gang der Suche nach dem verlorenen Gepäckstück nachverfolgen. Gute Idee, denke ich mir. Zur Anmeldung braucht man nur die Vorgangsnummer. Also Eric, dann sag mal, wie die Vorgangsnummer lautet.
Nach vergeblicher Suche schickt er mir ein Photo des Durchschlags, den er am Flughafen erhalten hat. Siehst Du da eine Vorgangsnummer? Ähm, nein. In Delhi geht immer noch keiner ans Telefon, also beschließe ich, es doch mal bei Lufthansa in Deutschland zu versuchen. Immer noch in der Überzeugung, es hier mit einer deutschen Qualitätsairline zu tun zu haben, die sicherlich alles tun wird, um ihre Gäste zufriedenzustellen, suche ich im Internet nach einer Telefonnummer. Das einzige, was ich finde, ist eine Nummer für „Reservierung und Buchungen“. Nun denn, dann versuche ich es doch mal da.
Nach einer schier endlosen Zeit in der Warteschleife (hätte ich wirklich buchen wollen, ich hätte schon lange aufgelegt) komme ich bei einem leicht überfordert wirkenden Mitarbeiter heraus, der mir nicht weiterhelfen kann. Aber er schickt mich in eine neue Warteschleife und keine 10 Minuten später habe ich eine Dame an der Strippe, die zwar auch nichts über das Gepäck sagen kann, mir aber wenigstens die magische Vorgangsnummer gibt. Und Simsalabim bin ich drin, im Gepäcksuchportal. Wer sich das jetzt wie bei Hermes oder bei der Post vorstellt, der liegt leider falsch. Diese auch nicht gerade als Könige des Kundenservice bekannten Unternehmen unterrichten einen doch relativ detailliert, was sie gerade mit der Sendung tun, hier ans Abholzentrum übergeben, da in den Lieferwagen gepackt. Lufthansa hingegen sucht, ganz ausschließlich und stumm und seit mittlerweile drei Tagen. Und ohne Ergebnis. Vermuten wir mal, denn das Portal sagt uns nichts anderes und die Nummer am Flughafen in Delhi, da wird Gandhis Geburtstag wohl immer noch gefeiert.
Eric fühlt sich langsam unwohl. Immer noch die gleichen Klamotten am Körper, leicht aufgerissene Gesichtshaut vom billigen Einwegrasierer aus dem Lufthansa-Pack und langsam steigende Sorge, dass der Koffer mit Kleidung, Schuhen und den Objektiven für seine schönen Photos vielleicht nie mehr auftaucht. Natürlich fragt er sich auch, wie die Reise denn jetzt weitergehen soll – Delhi war ja nur als Zwischenstation ins schöne Rajasthan geplant.
Also versuchen wir es per Mail. Lufthansa, was soll jetzt passieren? Sucht ihr überhaupt, oder seid ihr mit eurem Flughafentelefon abgetaucht? Kann Eric weiter reisen? Ab wann muss er die Hoffnung auf den Koffer aufgeben und sich alle Sachen neu beschaffen? Und zahlt ihr das dann auch?
Lufthansas automatische Eingangsbestätigung braucht eine erstaunliche halbe Stunde. „Aufgrund eines derzeit besonders hohen Eingangsvolumens kann die Bearbeitung Ihrer Anfrage einige Zeit in Anspruch nehmen.“
Jetzt werden wir langsam sauer, diesseits und jenseits des indischen Ozeans. Mittlerweile ist der Feiertag in Deutschland angebrochen und ich kämpfe gegen den Ausbruch einer Erkältung. Also bleibe ich länger im Bett und plane den Widerstand gegen die Servicewüste. Facebook, das könnte doch ein Anfang sein. Ein kurzer Beitrag unter ihrer Werbung und prompt kommt die Antwort: Das tut uns leid mit dem Gepäck, aber wir haben da ein tolles Portal. Ich schreibe zurück, dass wir das schon zur Genüge kennen, es gar nicht so toll finden und einfach gerne einen Ansprechpartner aus Fleisch und Blut hätten. Danach herrscht Funkstille.
Eric bekämpft den Missstand mittlerweile mit einer ausgedehnten Shoppingtour. Die könnte ja eigentlich nett sein, wäre man nicht aus einem völlig anderen Grund in Indien.
Am Abend hat Lufthansa eine neue Werbung auf der Facebookseite, sie schwärmen von den Lofoten. Ein Kommentar darunter lautet: Wann bietet ihr denn endlich einen Flug auf die Lofoten an? Und Lufthansa antwortet: wir arbeiten dran. Was ist denn das für eine neue Marketing-Strategie? Dinge bewerben, die man gar nicht im Angebot hat?? Ich mag auch kommentieren und empfehle ihnen, ihr Geld doch besser in den Service zu stecken. Aber sie mögen mir nicht mehr antworten.
Der gepäcklose Tag drei in Indien bricht an. Eric hat mittlerweile eine indische SIM-Karte erobert und will seine geänderte Telefonnummer dem Portal mitteilen. Geht aber nicht. Das Superportal mag nicht. Eric hat die Schnauze voll und fährt nach Agra. Und da lassen die indischen Götter einen ersten Hoffnungsschimmer auf ihn herabregnen: eine Mail von Lufthansa! Man habe da was gefunden in München. Aber, wie gewonnen so zerronnen, später stellt sich heraus, dass der Koffer in München eine ganz andere Farbe und Marke hat als der schmerzlich vermisste.
Und wie wird die Geschichte weitergehen? Taucht der Kranich wieder ab? Wird Eric seine Tage anders verbringen als Dinge zu kaufen, die er schon lange hat? Wird Lufthansa endlich den Weg auf die Lofoten finden? Bleibt dran und erfahrt, wie Eric auf der Suche nach dem verlorenen Koffer durchs wilde Rajasthan jagt und mit dem stummen Kranich kämpft.