Haff oder Ostsee?

Viel habe ich vom schönen Klaipeda leider nicht gesehen. Bestimmt wäre es spannend, hier länger auf die Suche nach der ostpreußischen Vergangenheit zu gehen. Ein Backsteingebäude mit der Aufschrift „Staatl. Lehrerseminar“, ein kleines Café, dass sich Memel Bäckerei nennt, die alte Dame, die mir auf meine doch recht einsilbige Frage „Apotek?“ antwortet: „Sie suchen eine Apotheke? Dort vorne links.“ und die Statue des „Ännchen von Tharau“ auf dem Marktplatz – all das macht mich eigentlich neugierig. Aber: ich hab ja diesmal keine zwei Jahre Zeit und die kurische Nehrung wartet. Ein Landstreifen vor der litauischen Küste, das kurische Haff auf der einen, die Ostsee auf der anderen Seite. Strände, die zu den schönsten Europas gekürt wurden, Dünen, Wälder, in denen Elche leben, verträumte Dörfer mit bunten Holzhäusern, Inspirationsort von Thomas Mann. All das hatte ich vorher gelesen, die Erwartungen waren hoch – und alles stimmt!

Fünf Minuten mit der Fähre von Klaipeda und das Naturparadies beginnt. Der Bus kurvt durch den Nadelwald, uns begegnen kaum Autos, denn die Nehrung ist Nationalpark und der Eintrittspreis für motorisierte Gefährte gesalzen – zum Glück. Ein kleiner Ort mit roten Holzhäusern, wieder hinein in den Nadelwald und dann hält der Bus in Pervalka. Das tut er nur drei mal am Tag, Pervalka ist noch kleiner als der Ort davor und nach zwei Minuten Fußmarsch stehe ich vor meiner Unterkunft. Adele – „like the english singer, you know?“ – kommt mir entgegen, begrüßt mich herzlich und zeigt mir mein kleines Bullerbü – ein freundliches helles Zimmer in einem roten Holzhäuschen mit blauem Balkon und weißen Fenstern. Die Schwalben nisten unter dem Dach, das Zimmer ist blitzesauber und alles wirkt ganz neu. Ich frage sie nach einem Fahrrad, krieg ich, und zehfreundlich radel ich zunächst mal nach links. Der Weg führt sofort in den Wald, es duftet heftig nach Nadelbäumen, der Weg wird sandiger, das kurische Haff leuchtet tiefblau, über dem Schilf fliegen Möwen – es ist herrlich! Von einer Minidüne aus sehe ich den roten Leuchtturm von Pervalka – wie perfekt. Ich lege mich in den warmen Sand, um mich herum zwitschert es. Das wird gut hier! Später folge ich dem sandigen kleinen Weg, der mich zu einer Bucht führt. In der Ferne leuchten riesige Dünen, das Haff plätschert, ich teste das Wasser, eisig….

Pervalka ist das kleinste Dorf auf der kurischen Nehrung mit gerade mal vierzig permanenten Einwohnern und es ist noch Vorsaison. Das einzige Restaurant im Ort hat zu und so hoffe ich auf den Dorfladen hinter meiner Pension. Der ist gut sortiert und hat erstaunliche Öffnungszeiten – von 7 bis 22 Uhr. Die freundliche Verkäuferin befindet, dass eine ganze Packung Butter zu viel für mich ist, schneidet sie in zwei Hälften und verpackt mir die eine. Ich kaufe Schwarzbrot, Gurken und Tomaten und besuche die Fischräucherei nebenan. Das mit mir und dem geräucherten Fisch ist so eine Sache, wir kauften früher immer geräucherten Aal, wenn wir meine Omi in Ratzeburg besuchten. Ich erinnere mich, wie ich zuhause auf der Geschirrspülmaschine saß, ich war etwa fünf, und genüsslich an einem ganzen geräucherten Aal zuckelte. Und ich fürchte, ich habe ihn komplett aufgegessen, mir war nämlich so schlecht, dass sich mir in den folgenden knapp 50 Jahren der Magen beim Geruch von geräuchertem Fisch jedes mal umdrehte. Aber der Mann in der Fischräucherei ist nett und ich will mehr als Butterbrot mir Gurke zum Abendbrot, also kaufe ich ein Stück Geräuchertes. Und setze mich auf meinen blauen Balkon, esse das traumhaft leckere Schwarzbrot und dazu den Fisch. Die Schwalben fliegen um mich herum und aufeinmal steht ein Fuchs vor mir. Oder eher eine Füchsin, man sieht ihre Zitzen. Als Stadtkind erschrecke ich mich erst mal, ein zutraulicher Fuchs, das ist doch Tollwut, oder? Adele kommt um die Ecke, ne, das ist Natur! Die Füchsin käme jeden Abend, sie habe fünf Junge und würde sich hier ihr Abendessen abholen. Eine hübsche Füchsin, zierlich, und mit freundlichem Blick.

Pervalka liegt etwa in der Mitte der kurischen Nehrung. Oder besser gesagt, des litauischen Teils der Nehrung. Der untere Teil gehört zu Kaliningrad und damit zu Russland. Also gibt es für mich am nächsten Morgen zwei Möglichkeiten: nach Süden oder Norden. Ich wähle erst mal den Süden und radle Richtung Nida. Der Radweg führt wieder durch Nadelwald, ab und an begegnen mir andere Radler, perfekt ausgestattet mit Spezialkleidung und Helmen. Ich lächele – die Distanzen auf der Nehrung sind kurz und 30 Kilometer krieg ich auch mit Jeans hin. Das frühere Nidden ist bekannt für seine große Düne und für Thomas Mann, der dort sein Feriendomizil hatte. Nida ist der belebteste Ort der Nehrung, aber immer noch ziemlich schläfrig. Ich habe erst mal Hunger, Nida ist etwa 15 Kilometer weg von Pervalka und bietet für mich das erste Restaurant. Ich probiere meinen ersten Kwas, ein Getränk aus vergorenem Roggenbrot, und bin sehr angetan. Das ist wirklich lecker! Und dann haben sie noch Leber mit Apfel und Kartoffeln auf der Karte, blöder Vegetarismus, her damit! So gestärkt besteige ich die Düne von Nida. Ich habe zuvor ja Bilder von der kurischen Nehrung gesehen, ihren Dünen und Stränden, aber das habe ich nicht erwartet. Ein riesiger Sandberg, riesig hoch und riesig breit. Und ich habe ihn fast für mich alleine. Ich stapfe durch den Sand, hoch und runter, schaue mich um, sieht mich keiner? Ne, außer ein paar Möwen ist da niemand, also springe ich einen Sandhügel runter, rolle durch den Sand und es ist toll! Man verliert hier leicht die Orientierung, also mache ich mich bald auf den Rückweg, der Zeh macht mit, und irgendwann erreiche die Holzplanken, die mich hinauf zu einem Aussichtspunkt führen. Die Küste macht nicht weit von hier einen Knick, es kommt mir ganz nah vor. Das ist schon Kaliningrad, sagt die Informationstafel, direkt vor mir ist die Grenze zu Russland. Immer noch ein komisches Gefühl, ich bleib halt ein Kind des Kalten Krieges.

Am nächsten Tag radel ich gen Norden nach Juodkrante. Mach vorher noch einen Abstecher an die Ostsee, sagt mir Adeles Mann. Stimmt, ich war ja bisher nur am Haff. Zwei Kilometer durch den Wald, dann bin ich am Ostseestrand. Und was für ein Strand! Endlos weit erstreckt er sich nach rechts und nach links, in der Ferne sehe ich ein paar Umkleidekabinen, aber ich habe den Strand komplett für mich allein. Selbst wenn sich in der Hochsaison einige Menschen tummeln – voll wird es hier sicherlich nicht. Ein Stündchen später steige ich auf mein Fahrrad und radle weiter Richtung Norden. Der Radweg führt Richtung Straße und ich sehe ein kleines Holzhäuschen. Muss ja was besonders Tolles sein, wenn dafür
Eintritt zu zahlen ist. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Wald stehe ich plötzlich in einer riesigen Dünenlandschaft. Sand so weit man blickt. Und wieder bin ich fast allein. Ich kraxele den Sandberg hinauf, etwa hundert Meter weiter liegt das kurische Haff unter mir, strahlend blau. Ich sehe meine Bucht vom ersten Abend, ganz dort hinten liegt Pervalka. Die Düne ist imposant, aber auch tragisch. Zwei Dörfer liegen hier begraben, der Sand kam Jahr für Jahr näher und schluckte die Häuser komplett. Die Sandflüchtlinge gründeten dann Pervalka und bis dahin schafft es der Treibsand sicherlich nicht. Jedenfalls nicht solange ich da bin.

Langsam macht sich bei mir der Hunger deutlich bemerkbar, bis Juodkrante und dem nächsten Restaurant ist es noch ein Stückchen. Also weiter und ein Stündchen später tauchen bunte Holzhäuschen auf. Ein freundliches Restaurant am Wasser ist schnell gefunden und nachdem der Kwas so gut war, probiere ich die litauische Spezialität schlechthin – kalte Rote-Bete-Suppe. Hellrosa leuchtet mir das Süppchen entgegegen, etwas skeptisch bin ich schon und dann: WOW! Das ist wirklich lecker!!! Rote Bete und Gurkenstreifen in Kefir, ganz viel frischer Dill obendrauf und dazu warme Kartoffeln. Das perfekte Sommeressen, sehr sehr empfehlenswert. Das werde ich in mein Kochrepertoire aufnehmen.

Satt und glücklich mache ich mich auf an den Ostseestrand von Juodkrante, der perfekte Ort für einen kleinen Verdauungsschlaf. Es ist schon recht spät mittlerweile, aber die Sonne geht hier ja erst nach 10 unter mit kurzer Dämmerung, da kann man ruhig auch mal erst spät zurückradeln. Und außerdem habe ich ja die vage Hoffnung, vielleicht einen Elch zu sehen. Im Wald vor Pervalka sollen die Chancen ganz gut stehen. Gegen halb 8 bin ich dort, schaue, lausche – da hinten vielleicht? Ein Reh. Ich warte weiter, kein Elch. Dann geh ich halt zu meiner Füchsin zurück. Das sind die Entscheidungen, die hier anstehen – nach Norden oder Süden, an die Ostsee oder ans Haff, Reh oder Fuchs. So schön, diese kurische Nehrung!

 

 

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