Hinterpommern. Das klingt antiquiert, für den ein oder die andere vielleicht sogar revisionistisch. Ich bin aus antiquierten Gründen hierher gereist, ganz sicher nicht aus revisionistischen. Hinterpommern ist das Land, in dem meine Vorfahren über Jahrhunderte gelebt haben. Mit ihrer Geschichte beschäftige ich mich seit vielen Jahren. Da liegt es nahe, auch die Orte, in denen sie lebten, zu besuchen. Zum dritten Mal reise ich hierher, diesmal aber mit viel mehr Zeit und ohne große Pläne. Beste Voraussetzungen, Land und Leute kennenzulernen.
Sich Zeit zu nehmen, das hat ja schon in Pommerns Hauptstadt Stettin gut funktioniert. Und sich von den Ahnen leiten zu lassen, war ein gutes Rezept in Mittelsachsen und im Harzvorland. Also kreise ich zunächst um die Kleinstadt Świdwin, die zu Zeiten meiner Vorfahren Schivelbein hieß. Eine touristische Infrastruktur existiert hier kaum, Unterkunft, Restaurants oder Wanderwege sind nicht leicht zu finden. Auch klassische Attraktionen sind Mangelware. Die Straßen sind holprig und schmal, was aber vor allem die LKW-Fahrer nicht daran hindert, mir mit Höchstgeschwindigkeit entgegenzudonnern. Warum um alles in der Welt sollte man hier also mehr als eine Nacht verbringen?
Wegen der Landschaft. Dieser unglaublichen Weite, den sanft geschwungenen Feldern, rot- und blaugetupft mit Mohn- und Kornblumen. Durchzogen von windgebeugten Alleen und zu jeder Tageszeit in ein anderes stimmungsvolles Licht getaucht. Wegen der Störche, die in luftiger Höhe ihren Nachwuchs füttern. Wegen der kleinen Backsteinkirchen, die in jedem Ort auf eine andere Art bezaubern. Wegen der alten Gutshäuser, mal bröckelnd dem Verfall preisgegeben, mal in altem Glanz erstrahlend. Die hinterpommersche Provinz ist einfach großartig.
Ich habe mir eine Liste gemacht von Orten, an denen meine Vorfahren gelebt haben. Und gelange auf diese Art über holprige Waldwege und staubige Pisten in abgelegenste Dörfchen. Viel mehr als Hundegebell begleitet mich dann nicht, beim Herumwandern und In-einen-Photorausch-verfallen. Die Dörfer sind ein Mix aus alt und neu in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. Alte Backsteinhäuser, bei denen ich nicht glauben kann, dass hier wirklich noch jemand wohnt. Frisch renovierte oder neugebaute Einfamilienhäuser in großen, liebevoll gestalteten Gärten. Plattenbauten mit und ohne Farbe. Und eine immer hervorragend in Schuss gehaltene Kirche. Polnisches Landleben, entspannt und unaufgeregt. Bis auf die kläffenden Hunde.
Ich nehme mir Zeit. Ich verbringe Stunden in Cieszyno, ehemals Teschenbusch, wo mein Urgroßvater der Schweinemeister des Gutes war. Mit einer alten handgezeichneten Karte versuche ich, den Ort in meinem Kopf zu rekonstruieren. Am Ende kann ich jedes Haus der Karte zuordnen, da wohnte der Chausseewärter Graunke, hier war die Schule, die Wasserpumpe, da der Hof von Bauer Popp und dort hinten das große Haus des Gutsverwalters Schwandt.
Ich spaziere um den Buchholzsee, dessen Strandbad wahrscheinlich schon für meine Vorfahren die Sommerattraktion war. So unter der Woche bin ich fast alleine hier, ein paar Angler, ansonsten nur der stille See und ich und die Vorstellung, wie mein Vater nach der Schule auf’s Fahrrad sprang und hierher radelte.
Gegen die Dörfer rundum wirkt Świdwin fast schon städtisch. Im Schloss wurde ein sehr hübsches Café eröffnet, das dazu einlädt, sich stundenlang in die stilvollen Sessel zu fläzen. Ansonsten sieht es verpflegungstechnisch eher mau aus. Nach einigem Suchen gerate ich in einen Dönerimbiss und hier wird mein Englisch erstmalig verstanden: der Besitzer kommt aus Bangladesh, wir schwärmen beide kurz von Indien und dem indischen Essen und er fabriziert mir ein Sandwich, das von unserem Gespräch inspiriert zu sein scheint: die Aromen Indiens haben sich in das Sößchen geschlichen. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet in der hinterpommerschen Provinz eine bengalische Köstlichkeit serviert bekomme. Ich durchstreife das Städtchen auf der Suche nach Spuren der Zeit, als Świdwin noch Schivelbein hieß. An der Burg, am Bahnhof und an der Mühle fällt mir das nicht allzu schwer. Traurig ist es immer ein wenig, wenn ich durch die Plattenbausiedlung am Schloss laufe. Hier verlief früher die Mittelstraße, in der meine Großeltern wohnten. Die Straße ist komplett verschwunden. Nicht nur die alten Häuser, sondern der gesamte Straßenverlauf existiert nicht mehr. In der früheren Friedrichstraße ist das anders und hier hatte zudem jemand eine grandiose Idee: das alte Straßenbild findet sich als Wandgemälde auf einem der Häuser. Dieses Interesse einer neuen Generation an der deutschen Vergangenheit der Stadt ist schön und irgendwie komme ich mir dadurch willkommen vor.
Doch Hinterpommern ist nicht nur ländliche Idylle, sondern auch das Land am Meer. Die Temperaturen steigen, jetzt muss ich langsam mal wenigstens die Füße in die Ostsee tauchen. Das gelingt auch ganz hervorragend in Rusinowo, früher Rützenhagen, hat aber leider nur kurz Bestand: im ganzen Dorf gibt es kein Wasser. Also keins aus der Leitung. Am Freitag bei Wartungsarbeiten abgestellt. Und weil Samstag ist, wird der Hahn am Wochenende wahrscheinlich nicht mehr aufgedreht. Meine Vermieterin ist entsetzt und schleppt literweise Mineralwasser heran. Ihr Mann kommentiert nur „In this country anything can happen.“. Schade, ich fand es hier echt nett, aber Duschen sollte ich schon mal.
Die sehr kurzfristige Ersatzbuchung entpuppt sich als großer Glücksgriff. Zwar kein Meer in Sicht, dafür aber eines der schönsten Freilichtmuseen, das ich je erlebt habe. Im Ahnenblog habe ich ausführlich davon geschwärmt.
Doch das Meer gebe ich nicht auf. Ein kurzer Ausflug ins immer noch ein wenig mondäne Seebad Ustica, früher Stolpmüde, macht Lust auf einen künftigen längeren Aufenthalt. Aber ich will jetzt die Ostsee in ihrer ganzen einsamen Pracht und da gibt es in Polen eigentlich kaum einen besseren Ort als den Slowinski-Nationalpark. Bei Edyta in Gardna Wielka, früher Groß Garde, duftet mir schon der frisch gebackene Kuchen entgegen. Die Wohnung im Dachgeschoss ist reizend, schade eigentlich, dass Sommer ist, zu gerne hätte ich den gusseisernen Ofen angeworfen und den köstlichen Rhabarberkuchen dort genossen. Der Slowinski-Nationalpark ist so grandios wie ich ihn in Erinnerung hatte. Schon vor drei Jahren waren wir begeistert von den gigantischen Sanddünen und kilometerlangen einsamen Stränden. Der Nationalpark ist groß. Deswegen teste ich diesmal die Gegend um den großen Binnensee Jezioro Gardno und bin mit dem Fahrrad unterwegs – liebevoll gewartet von Edytas Mann kann nichts schiefgehen. Mit dem Nationalpark hat Polen einfach alles richtig gemacht – den Zugang zu den Dünen und zum Meer bekommt man nur, wenn man das Auto mindestens einen Kilometer, meist aber deutlich weiter entfernt, stehen lässt und sich dem Paradies zu Fuß oder mit dem Fahrrad nähert. Keine Hotels, keine Eisbuden, keine Fun-Aktivitäten – die duftenden Nadelwälder, den endlose Strand, das wilde Meer hat man in seiner ganzen Naturschönheit fast für sich alleine.
Schweren Herzens trenne ich mich von diesem kleinen Paradies – verlängern ist nicht, Edyta ist ausgebucht und das kann ich sehr gut verstehen. Mit selbstgekochter Marmelade versüßt sie mir den Abschied und ich steuere das nächste pommersche Naturparadies an: Kaschubien. So ganz richtig Hinterpommern ist das wohl nicht mehr, aber in jedem Fall gehört alles zur Woiwodschaft Westpommern, also möge es zählen. Eine liebliche Landschaft vor den Toren Danzigs, Heimat einer bereits zu deutschen Zeiten slawischen Minderheit, zu der zum Beispiel der ehemalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk gehört. Die Ortsschilder sind zweisprachig, sehr stark weichen die Schreibweisen aber nicht ab. In Szumleś Królewski erwartet mich erneut eine reizende Dachwohnung und wieder werde ich hier garantiert nicht verhungern. Selbstgebackenes Zwiebelbrot und frische Eier, am nächsten Tag kommt noch ein Drei-Gang-Menü, das auch für drei Tage hält, mit dazu. Ein wuseliger kleiner Hund kommt mich regelmäßig besuchen, im kleinen Wäldchen lässt es sich vortrefflich in der Hängematte schaukeln und von meiner Terrasse aus kann ich tiefrote Sonnenuntergänge genießen. Ich wandere durch die liebliche Landschaft, die Felder schwingen sich die sanften Hügel hinauf und hinab, freundliche Kühe schauen mir entgegen, ein kleines Wäldchen kühlt die Frühsommersonne kurz ab. Ich habe ein Picknick dabei und kaum bekomme ich Appetit, erscheint hinter einem kleinen Bauernhof eine Bank mit grandiosem Blick über einen See. Wie für mich gebaut. Ich sitze ein paar Minuten, esse das köstliche Zwiebelbrot, da kommt ein alter Mann vorbei. Ich räume meinen Rucksack zur Seite, er gibt mir die Hand und redet auf polnisch auf mich ein. „Sorry, I don’t speak Polish“, sage ich, er redet weiter, ich sage „Ich spreche leider kein Polnisch“, da grinst er und meint „Dann sprechen wir doch Deutsch“. Der See da unten, das ist seiner. 20 Hektar, 80 Hektar hat er insgesamt, Wald und Ackerflächen. Der Hof hinter uns gehört ihm auch, den bewirtschaftet jetzt sein Sohn. Der spräche ebenfalls gut Deutsch, er hätte in Danzig Abitur gemacht und sei dann fünf Jahre hintereinander zur Spargelernte nach Deutschland gefahren. Und er selber, er hätte Deutsch in der Schule gelernt. Ja, der See, alles nicht mehr das, seit die Kormorane die Fische wegfressen. Schießen dürfe er die nicht, Tierschutz. Wir plaudern lange, er tätschelt mir den Arm, seine Frau sei schon lange tot, ich denke, er hätte mich vom Fleck weg geheiratet und ich könnte stolze See-Eigentümerin sein. So verabschiede ich mich dann aber und umrunde seinen See. Vielleicht doch ein Grund zum Heiraten?
Und damit verlasse ich Pommern. Mehr als drei Wochen war ich hier. Von der Großstadt über winzige Dörfer bis hin zu der grandiosen Ostsee und dem idyllischen Kaschubien – irgendwie kann man hier alles haben. Gemütliche Ferienwohnungen, kleine Hexenhäuschen, freundliche blitzsaubere Hotels. Perfekte polnische Hausmannskost, bengalische Döner, Heringsabenteuer, Gänsebrühe – auch kulinarisch muss man nicht darben. Polnische Hotelkritiken enden häufig mit „Polecam“. Google übersetzt das mit „Ich empfehle“. Und genauso ist es mit Hinterpommern: Polecam!
Vielen Dank für diesen wunderschönen Reisebericht. Ich möchte mich am liebsten sofort auf den Weg machen. Ich muss noch ein bisschen warten und träumen. Die Bilder sind auch wunderbar!
Vielen lieben Dank für die schöne Rückmeldung, das freut mich sehr!
Danke ihnen besonders für den Bericht aus meiner Geburtsstadt Schivelbein
Sehr schön geschrieben mit tollen Bildern.
Vielen Dank für die Rückmeldung!