Dass Sachsen mit großartigen Tourismuszielen aufwarten kann, hatten wir schon auf unseren letzten Reisen entdeckt. Dresden, Görlitz, die große Überraschung Bautzen und erst jüngst Leipzig – zumindest die sächsischen Städte waren bisher eine Reise wert. Wenn ich schon in der Gegend bin, gebe ich doch auch dem ländlichen Sachsen eine Chance. Ich suche mir die Gegend südlich von Leipzig zwischen Zwickau und Chemnitz aus. Hier lebte die Familie meines Großvaters, hier kann ich Touristin und Ahnenforscherin sein.
Ich miete mich im kleinen Dorf Mühlau ein. Ein hübsches Apartment mit riesigem Garten bis hinunter zu einem idyllischen See und es hätte alles so perfekt sein können, wenn die netten Besitzer die ländliche Stille nicht mit ihrem Hausbauprojekt auf dem übernächsten Grundstück ruiniert hätten. Aber sie waren so stolz auf ihr werdendes Eigenheim und dass es auf dem Land ruhig ist, ist sowieso ein Mythos. Einer mäht immer…
Doch ich bin ja da, um die Umgebung zu erkunden. Und die ist voll üppiger Natur und hübscher Städtchen. Gelbe Rapsfelder leuchten in der Sonne, saftig-grüne Felder, sanft geschwungen und wie gemacht für lange Wanderungen und Radfahrten. Idyllische kleine Dörfer, viele der historischen Gebäude komplett erhalten und instandgesetzt. Urige Kopfsteinsträßchen, verwunschene Schlösschen, die noch darauf warten, wachgeküsst zu werden. Und alles habe ich fast für mich alleine. Tourismus ist hier nur eine Randerscheinung. Wander- oder Radwege scheint es kaum zu geben, aber die entsprechenden Pfade kann ich mir noch selber bahnen. Wirklich schade ist, dass ein Café mit schönem Blick und dem guten sächsischen Kuchen oder gar ein idyllischer Biergarten so gut wie nicht zu finden sind. Gastronomie beschränkt sich vielerorts auf einen „Asia Dönerimbiss“ oder eine unregelmäßig geöffnete Bäckerei. Und montags braucht man es eigentlich gar nicht zu versuchen, fast alles zu. Horden von Touristen könnte man hierher locken, gerade jetzt, wo Deutschland als Reiseziel sexy geworden ist. In meinem nächsten Leben werd ich Tourismusberaterin und Besserwessi.
Zum Beispiel Waldenburg. Hier braute schon mein Ururgroßvater Bier und hatte damals hoffentlich auch daran gedacht, es unters Volk zu bringen. Die Oberstadt thront über dem Tal, mit Schloss – natürlich zu – und Naturalienkabinett – meistens zu. Aber wenn letzteres offen ist, ist es einen Besuch wert. Eine politisch nicht immer korrekte Sammlung von toten Tieren und toten Menschen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Sammlung fast unverändert hier untergebracht. Die Räume mit den großen Holzregalen und den sorgfältig beschrifteten Exponaten im Halbdunkel des historischen Gebäudes kreieren eine ganz besondere Atmosphäre und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich die ausgestellte Mumie vielleicht nicht doch kurz bewegt hat…
Waldenburg nennt sich Keramikstadt und zu Zeiten meiner Vorfahren produzierten hier fast vierzig Töpfereien allerlei Tonwaren. Heute sind es immerhin noch sechs und in mein Reisegepäck wandert eine Tasse aus einer kleinen Manufaktur. Der Ortsteil Altstadt Waldenburg liegt im Tal und von hier aus gelangt man zu einem riesigen Landschaftspark nach englischem Vorbild. Deswegen hieß der Park zum Zeitpunkt seiner Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts auch zunächst Greenfield. Heute ist er eingedeutscht und um den Grünfelder Park bis in den letzten Winkel zu erkunden, bräuchte man mindestens einen halben Tag. Ein großes Steintor hier, ein idyllisches Teehaus da, weidende Pferde, kleine Seen, einfach ein herrlicher Ort. Ich stelle mir vor, wie Urgroßvater Max als er noch ein Mäxchen war, hier Abenteuer erlebte, während der Vater köstliches Bier braute, das die Waldenburger am Abend mit Blick über die üppige Natur aus selbstgetöpferten Bierkrügen tranken – stopp, so idyllisch wird’s sicher nicht gewesen sein.
Weiter nach Burgstädt. Hier müsste ich mich zurückbeamen an den Anfang des 19. Jahrhunderts, um meinen Vorfahren zu begegnen. Aber Burgstädt ist so entzückend, so gut erhalten und renoviert, dass ich mir eine Zeitreise auch ohne Technik sehr gut vorstellen kann. Doch leider auch hier: auf dem schönen Marktplatz, dem reizenden Rathausplatz, in den kleinen Gassen, nirgendwo scheint Leben zu sein. Kein Café, kaum Menschen unterwegs, so schade. Auf der Suche nach dem Leben meiner Vorfahren besuche ich das kleine Heimatmuseum neben der Kirche. Die freundliche Dame begleitet mich durch die Räume, die unter anderem ein Schulzimmer und eine Heimarbeiterstube beherbergen. Wir kommen ins Gespräch, sie erzählt von der Zeit vor und nach der Wende. Das ist keine Stadt mehr, das ist ein Naherholungsgebiet, seufzt sie, nachdem sie von der Blütezeit der Textilindustrie, die über Nacht abgewickelt wurde, berichtet hat. Keine verklärte Ostalgie, sie erzählt auch von ihrem Gemüseladen zu DDR-Zeiten, in dem es zum Schluss nur noch Kartoffeln und Kohl zu kaufen gab. Nach einer sehr aufschlussreichen und sympathischen Stunde verabschiede ich mich aus dem reizenden Museum.
Ziemlich auffällig und auch für das Museum bezeichnend: die Freundlichkeit der Menschen. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt, ständig gegrüßt zu werden. Selbst die coolen Youngster, die sich mit einer Flasche Bier am See niedergelassen haben, sagen freundlich Hallo, auf dem Marktplatz blicke ich nur kurz suchend auf mein Handy, da fragt mich schon eine Frau, ob sie mir weiterhelfen kann. Auf dem Parkplatz komme ich dann ins Gespräch mit einem Mann, der sich als Bürgermeisterkandidat für Burgstädt entpuppt. Ich sei leider nicht seine Zielgruppe, sage ich ihm, er hat ja auch schon mein Stuttgarter Kennzeichen gesehen. „In sieben Jahren vielleicht“, grinst er. Cafés und Kneipen will er in die Innenstadt bringen, das ist doch mal ein Ansatz. Irgendwann frage ich, für welche Partei er kandidiert, und bin erleichtert, dass er nicht AfD sagt. Wie er denn mit denen umgeht, frage ich, und ein bisschen scheint er sich in sein Schicksal ergeben zu haben. „Der Sachse ist grundsätzlich erst mal gegen alles“, stöhnt er, und das bedient die AfD ja glänzend. Ich wünsche ihm viel Erfolg bei seiner Überzeugungsarbeit und verabschiede mich – vielleicht bis in sieben Jahren 🙂
Eine so schöne Gegend, die so unentdeckt ist. In jedem Ort gibt es kleine Abenteuer zu erkunden, die Altstädte sind häufig komplett erhalten und klasse saniert, die dekorativ verfallenden Gebäude der alten Textilfabriken am Stadtrand müssten ein El Dorado für Fans von „Lost Places“ sein. Und das alles eingebettet in schönste Natur. Wenn man sich sein Vesper selber mitnimmt, dann ist die Mitte Sachsens eine echte Wonne!