In Klaipėda muss ich mich entscheiden. Wie soll meine Reise weitergehen? Die Küste hoch Richtung Lettland und meinem ursprünglichen Plan folgend durchs Baltikum nach Skandinavien? Aufs Schiff springen und nach Schweden oder gar nach Deutschland? Oder weiter durch Litauen? Ich bin jetzt fast drei Monate unterwegs. Spätestens im Oktober möchte ich wieder zuhause sein, um mich zu rüsten für das, was dann kommen soll: eine Globonauten-Reunion und das erste Mal seit Corona wieder Europa verlassen.
Drei Länder und 5000 Kilometer liegen bis jetzt hinter mir. Entdeckungen und Geschichten, die ich noch gar nicht aufarbeiten konnte. Die vielen Denkanstöße für meine Familienforschung in Pommern, ordentlich Material aus dem Kirchenarchiv in Magdeburg, hunderte von Photos. Und langsam schwirrt mir der Kopf. Jetzt weiter in noch fünf Länder? Abschied vom schönen Litauen nehmen, das ich noch gar nicht richtig kennengelernt habe? Das sowieso alle Skandinavien-Klischees erfüllt? Und dazu auch noch recht günstig ist?
Den endgültigen Ausschlag geben dann eine Berlinerin und ihr Freund, die ich in Rusnė treffe: sie waren in Schweden unterwegs und haben ihre Reise dort abgebrochen. Alles Schöne ausgebucht. Und was noch übrig war an Zimmern, war unter 100 Euro nicht zu kriegen. Damit ist meine Entscheidung gefallen. Lieber noch Zeit in Litauen verbringen und dann langsam zurück. Und vielleicht auch mal ins ganz normale litauische Leben eintauchen.
Dafür steuere ich als erstes Šiauliai an. Die Stadt mit etwas über 100.000 Einwohnern taucht in den Reiseführern maximal als Durchgangsstation für den nördlich gelegenen Berg der Kreuze auf. Aber Šiauliai hat genau das zu bieten, was ich suche: freundlichen Alltag.
Da ist erst mal die Fußgängerzone, auf der es sich sehr nett flanieren lässt. Und die sich rühmt, die erste Fußgängerzone in der ganzen Sowjetunion gewesen zu sein. Passt mal wieder zu meinem Eindruck von Litauen: immer schön dem Sozialismus etwas Menschlichkeit entgegensetzen, kreativ und leicht störrisch. Šiauliai war einst eine überwiegend jüdische Stadt und ein Zentrum der Lederindustrie mit Weltruf. Die Lederfabrik von Chaim Frenkel dominierte die Stadt. Heute bröckeln die Fabrikgebäude vor sich hin. Die Art-Noveau-Villa der Familie Frenkel inmitten eines Parks ist aber bestens restauriert und lädt zu einer Zeitreise ein. Neben beeindruckenden Jugendstil-Decken kann man Stummfilm-Atmosphäre in einem kleinen Kinosaal genießen. Der Park hinter der Villa ist ein freundlicher Ort, um einen sonnigen Nachmittag zu verbringen.
Besonders glücklich kann sich Šiauliai wegen seines Parks rund um den Talkša-See schätzen. Ein freundliches Freizeitparadies quasi fast in der Innenstadt. Am See geht es ultraentspannt zu, Familien verbringen den Feierabend hier, kein Gegröle, keine dröhnende Musik, Radfahrer und Skater umkurven die Fußgänger umsichtig. Wer überschüssige Energie loswerden muss, traut sich an die Wakeboarding-Anlage, an der man sich über den See ziehen lassen kann. Am Rande des Parks werden zwei Heißluftballons aufgeblasen und heben in den tiefblauen Himmel ab – die machen es sich wirklich schön hier. Vorbei am „Goldenen Jungen“, dem glänzenden Bogenschützen auf dem Obelisken am Sonnenuhrplatz, schlendere ich abends zurück zu meiner Wohnung und freue mich über den kleinen Einblick ins entspannte litauische Alltagsleben.
Die meisten Touristen passieren Šiauliai nur auf dem Weg zu einer der wichtigsten Attraktionen des Landes: dem Berg der Kreuze. DER Wallfahrtsort in Litauen. Und DAS Symbol des Widerstandes der Litauer gegen die kommunistische Herrschaft der Sowjets. Schon seit dem 19. Jahrhundert wurden auf dem Hügel – Berg ist etwas hochgegriffen – Kreuze für Opfer der Auseinandersetzungen mit Russland errichtet. Die Kommunistische Partei versuchte mehrfach, den Ort zu zerstören. Aber kaum waren die Kreuze verbrannt, wurden neue errichtet. Mit der Unabhängigkeit und dem Papstbesuch 1991 traten dann die religiösen Motive in den Vordergrund. Heute sollen es über 50.000 Kreuze aus der ganzen Welt sein. Hinter jeder Aufschrift eine ganz eigene Geschichte. Der kleine Tim, der mit vier Jahren starb. Die Opfer des Krieges in der Ukraine. Das Ehepaar Knoop aus dem Memelland. Aber auch Danksagungen verschiedener europäischer Fliegerstaffeln, die auf dem nahegelegenen Militärflughafen Manöver absolviert haben, finden sich. Später donnern dann zwei Tiefflieger über den Ort – diesmal mit akutem Hintergrund. Vier polnische und vier dänische Kampfjets machen deutlich, dass dies hier Europa ist und bleiben muss.
Ich mache mich auf Richtung Kėdainiai. In einer der ältesten Städte des Landes legen Touristen eher nur einen kurzen Stopp ein. Dabei ist sie voller Geschichte. Kėdainiai war einst ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, eine berühmte Tora- und Talmudschule und mehrere Synagogen prägten den Ort. Die Altstadt ist fast komplett erhalten oder wenigstens wiederaufgebaut, darunter auch zwei der Synagogen, die in alter Pracht an einem der vielen Plätze der Altstadt Seite an Seite stehen. Strahlender Sonnenschein und leichter Regen wechseln sich ab. Der Spaziergang durch die Altstadt und am Ufer des Nevėžis muss wetterbedingt etwas verkürzt werden. Aber das hier ist Litauen und da findet sich immer ein hübsches Café, in dem man das ein oder andere Stündchen verbringen kann. In Kėdainiai heißt die Quelle leckeren Kaffees Kavamanija und war mir sogar zwei Besuche wert.
Und dann geht es ganz schnell. Keine zwei Stunden brauche ich bis zur polnischen Grenze und zack bin ich raus aus Litauen. So abrupt? Und ohne noch mal einen richtigen Halt gemacht, noch mal Auf Wiedersehen gesagt zu haben? Ich bekomme doch tatsächlich feuchte Augen. Das war’s jetzt mit Litauen. Was für ein Land!
Obwohl kleiner als Bayern hat ein knapper Monat nicht gereicht, alles zu sehen. Dabei habe ich die Hauptstadt Vilnius genauso ausgelassen wie die Kurische Nehrung und den Nationalpark Aukštaitija im Nordosten. Aber ich bin froh um das gemächliche Tempo, den Luxus, auch mal einen ganzen Nachmittag im Café oder auf einer sonnigen Parkbank zu verbringen und mir dabei ein paar Gedanken über das Land und meine Eindrücke machen zu können.
Vor vier Jahren war ich das erste Mal hier, damals wirkte einiges noch im Aufbau, die sozialistische Zeit schien an vielen Stellen durchzublitzen. Doch Litauen schreitet mit großen Schritten voran und wirkt heute westlicher als Polen. Skandinavisch eigentlich. Nein, europäisch! Mit Englisch kommt man hier sehr gut durch, ganz anders als zum Beispiel in Hinterpommern. Die jungen Menschen sprechen die Sprache meist hervorragend, aber auch mit dem pilzsuchenden alten Mann im Nationalpark konnte ich mich sehr gut verständigen. Auf eine sympathische Art störrisch scheinen sie mir, die Litauer. Sie treten der Welt selbstbewusst gegenüber und scheuen weder den Konflikt mit Russland noch China.
Dem Transitzug nach Kaliningrad machen sie es nicht leicht, sei es durch die strenge Auslegung von EU-Vorschriften oder die Anbringung von Kriegsbildern auf der Strecke zur Aufklärung der russischen Reisenden. Die Crowdfunding Aktion Blue/Yellow zur Unterstützung der ukrainischen Armee hat fast 35 Millionen Euro gesammelt – beeindruckend bei 2,8 Millionen Einwohnern. In Taiwan eröffnen sie eine Handelsvertretung. Vorausschauend haben sie seit Jahren darauf hingearbeitet, sich und vielleicht sogar das restliche Baltikum von russischem Gas unabhängig zu machen. Natürlich wissen sie die EU und NATO hinter sich, aber klein und frech, das unterstützen wir doch gerne! Kein Wunder, dass die singende Revolution ihren Ausgang in Litauen nahm und sich das Land als erste Sowjetrepublik unabhängig erklärte.
Was mir noch auffiel ist der Umgang Litauens mit seiner jüdischen Vergangenheit. Nur etwa 10.000 der 220.000 Juden, die beim Einmarsch der Nazis in Litauen lebten, entkamen der Shoah. Gemordet wurde hier nicht in Konzentrationslagern, sondern vorwiegend in Wäldern oder Ghettos. Und die Deutschen konnten sich dabei auf litauische Helferinnen und Helfer verlassen. Anders als in Polen scheint man zu dieser Geschichte zu stehen – an jeder Gedenkstätte, die ich besucht habe, ist von den litauischen Kollaborateuren die Rede. Wiederaufgebaute Synagogen und Gedenkstätten zeugen von einer Auseinandersetzung.
Auch dem deutschen Erbe im Memelland steht man aufgeschlossen und als Teil der Geschichte des Landes gegenüber. Einig ist man sich aber in der Bewertung der jüngeren Geschichte des Landes – niemand weint der sowjetischen Vergangenheit eine Träne nach. So etwas wie Ostalgie hat hier keinen Platz. Orte wie der Grūtas-Park in der Nähe von Druskininkai, wo sowjetische Statuen ihren letzten diktatorischen Geist aushauchen, sind keine Stätten der Verklärung, sondern eher wie ein kleines Gruselkabinett zur Erinnerung an das, was man glücklicherweise überwunden hat.
Und so im Alltag? Vielleicht das Wichtigste: ein gutes Land zum Alleinreisen, besonders als Frau. Ich habe mich immer sicher gefühlt und bin nicht ein Mal in eine unangenehme Situation geraten.
Schöne Unterkünfte findet man hier leicht, von kleinen Holzhäuschen und hübschen Landpensionen bis hin zu stylischen Stadtwohnungen. Gut essen kann man an jeder Straßenecke. Sehr lecker und günstig satt wird man in den „Kepykėlė“, den Bäckereien. Prezo ist eine Bäckereikette, in der ich manch leckere Stunde verbracht habe. Für unter einem Euro bekommt man lecker gefüllte Blätterteigtaschen – süß oder deftig – mit günstigem Kaffee. Bier ist köstlich – besonders fein fand ich das „Volfas-Engelman“. Sehr gut sind auch die alkoholfreien Biere und Kwas, dieses wunderbare Gebräu aus vergorenem Brot.
Dass das Baltikum in Sachen Digitalisierung ganz oben mitspielt, hat sich ja herumgesprochen. Zumindest die Infrastruktur dafür stimmt in Litauen: im hintersten Wald, am einsamsten Ostseeufer – überall perfekter Empfang. Freies, superschnelles und stundenlanges WLAN in jedem Café, in vielen Städten und in jeder Unterkunft.
Ich erwähnte es schon, sprachlich gibt es kaum Probleme. Mit englisch und sogar deutsch kommt man gut durch. Ich habe es nicht geschafft, etwas litauisch aufzuschnappen – obwohl eine indogermanische Sprache, ist sie ganz weit weg von allem was mir vertraut ist. Als eine der ältesten Sprachen der Welt ist sie am ehesten mit Sanskrit verwandt. Auf die Erhaltung des Litauischen achtet man genau – Fremdwörter finden nur selten Einzug, Namen werden gnadenlos litauisiert. Schon mal von Olafas Šolcas gehört? Unser Bundeskanzler…. Nur vor Gandhi haben sie Respekt, er hat seinen Namen behalten dürfen.
Was macht Indiens Nationalheld ausgerechnet auf der kleinen Insel Rusnė im Memeldelta? Sein Freund Hermann Kallenbach wurde nicht weit von hier geboren. Der jüdische Architekt lernte Gandhi in Südafrika kennen und beide verband eine lebenslange, ganz besondere Freundschaft. Die faszinierende Geschichte der „Soulmates“ hier.
Und die Schattenseiten? Was nervt in Litauen?
So zurückhaltend und nett sie sind – die Litauer sind furchtbare Autofahrer. Auf waghalsige Überholmanöver muss man sich einstellen – stoppen können sie nur die relativ häufigen Radarfallen. Nicht alle Straßen sind geteert, aber das stört die eiligen Litauer nicht im geringsten, staube was da wolle. Aber – man gewöhnt sich und auf den Autobahnen geht es dank Tempolimit, an das sich erstaunlich viele halten, dann eher entspannt zu.
Land des Regens, so wird Litauen manchmal bezeichnet. Und ja, auch ich habe den ein oder anderen Tag in einer gemütlichen Unterkunft verbracht, weil es draußen schüttete. Aber: nichts geht über einen Spaziergang in einem frisch gewaschenen litauischen Wald. Und während Deutschland im klimagewandelten Hitzesommer ächzte, genoss ich angenehme Temperaturen und regnerische, aber gemütliche Café-Nachmittage.
Und deswegen mein Fazit: Ein tolles Land, ein Land zum Wohlfühlen, zum Entdecken, ein Land zum unbedingt Wiederkommen!