So langsam sollte ich mich Richtung Lettland aufmachen. Mein Rückflug geht ab Riga und außerdem muss ich dort noch in Sachen Familienforschung tätig werden. Also mit dem Bus nach Riga und von dort ein Auto mieten? Ach, schönes Litauen, ich würde ja gerne noch einen Eindruck vom Landleben bekommen. Also beiß ich in den sauren Apfel, bezahle eine One-Way-Gebühr und miete mir in Vilnius einen kleinen roten Flitzer, den ich eine Woche später in Riga abgeben werde. Und steuere als erstes Trakai an, in jedem Reiseführer hochgelobt für seine romantische Wasserburg. Das haben viele gelesen und die Nähe zu Vilnius sorgt dafür, dass die Gruppen busweise angekarrt werden. Der Ort und die Burg sind hübsch, aber eben auch voll. Ich esse eine Klienigkeit am See und starte dann zu meiner Unterkunft außerhalb von Trakai. Ein Bauernhof an einem idyllischen See, ich werde herzlich begrüßt und habe den ganzen Hof für mich alleine. Zwei Pferde, ein paar Katzen und dieser wirklich wunderschöne See. Die Vermieterin hat dann auch gleich Tipps auf Lager, es gibt ein schönes Herrenhaus gegenüber der Wasserburg, da sieht man die Burg auch, es gibt aber nur wenige Touristen. Klasse, das mach ich. Die gute Frau hat absolut Recht, ein idyllischer Landschaftsgarten, das edle weiße Herrenhaus und ein schöner Blick hinüber nach Trakai. Uzutrakis heißt der schöne Ort, falls ihr mal vorbei kommen solltet. Gegen Abend fahre ich nach Trakai hinüber, viel leerer ist es noch nicht, ich drehe eine Runde um die Burg, sie ist wirklich imposant. Ich kaufe mir ein paar gefüllte Teigtaschen, die Spezialität der Karäer, einer jüdischen Gemeinschaft in Trakai, die nicht dem Talmud folgen und glücklicherweise selbst Hitler zu unjüdisch waren. Mit den leckeren Täschchen und einem Bier setze ich mich auf den Holzsteg meines Privatsees und fühle mich wie in Lönneberga.
Am Morgen hat die Wirtin einen weiteren Tipp für mich: ich soll mir Kernave anschauen, die erste Hauptstadt Litauens. Jetzt lag sie ja schon mal so richtig, Kernave ist auf meiner Route Richtung Norden und also schaue ich vorbei. Kernave gehört zum Weltkulturerbe, aber ihre Blütezeit ist schon viele hundert Jahre her. Ihre Hochzeit hatte sie im 13. Jahrhundert und heute sind von den fünf Wehrburgen nur noch Hügel übrig. Das Troja Litauens nennt sich der Ort auch, auf einem der Hügel wurde ein Wehrdorf neu nachgebaut, aber man muss historisch schon sehr interessiert sein, um hier voll auf seine Kosten zu kommen. Also mache ich mich bald weiter auf den Weg in den Aukstaitija Nationalpark im Nordosten. Mitten im Wald sei meine Unterkunft und die Wege nicht immer befestigt. stand in der Beschreibung. Ja, das kann ich bestätigen. Zunächst geht es noch über eine recht solide Schnellstraße. Am Wegesrand ein Schild, hier sei der geographische Mittelpunkt Europas. Ich halte an, neben einem Golfplatz führt eine Holzbrücke zu einer Säule, die von allen Fahnen der europäischen Mitgliedsländer gesäumt wird. Na, eine können sie ja bald runterholen. Und das soll der geographische Mittelpunkt Europas sein? Hier, so weit im Norden? Also bitte keine Zweifel, macht ein großes Schild deutlich. „Ungeachtet dessen, dass einige Länder sich eines geographischen Mittelpunktes Europas rühmen, liegt das tatsächliche und einzige geographische Zentrum Europas in Litauen.“ steht darauf in mehreren Sprachen. So, jetzt wissen wir’s! Und kein Widerspruch!
Ich fahre weiter, die Straßen werden enger und irgendwann führt mich das Navi auf eine Schotterpiste. Ich kann mich zum Glück nicht erinnern, dass auf dem Formular der Mietwagenfirma unbefestigte Wege ausgeschlossen waren. Bissle staubig, aber es geht schon. Und dann kommt der Wald und das Navi will, dass ich nach rechts auf einen Waldweg abbiege. Dann werd ich wohl gleich da sein, denk ich mir. Tja, es geht noch etwa 10 km mitten durch den Wald, langsam wird mir etwas mulmig, der Weg wird immer holpriger und enger, kann das wirklich sein? Irgendwann kein Netz mehr, na toll, jetzt sitz ich fest in den Weiten des litauischen Waldes. Wenden ist auf dem schmalen Weg ausgeschlossen, also weiter vorwärts und irgendwann tatsächlich ein Schild nach rechts zu meiner Unterkunft. Ich bin wirklich erleichtert…. Ein paar Holzhäuser auf einer großen Lichtung, ein Platz für ein Lagerfeuer, in der Ferne ein Hochsitz. Ist das idyllisch! Erst mal scheint niemand hier zu sein, dann kommt mir Marija mit ihrem Hund entgegen. Sie führt mich zu einem der Holzhäuser, das Zimmer ist wunderschön! Ich komme mir vor wie in einem Blockhaus, aber mit allen Annehmlichkeiten. In einer Karaffe wartet frisches Quellwasser auf mich, zwei gemütliche Betten, alles duftet nach Holz. Marija empfiehlt mir, einen Spaziergang durch den Wald zum See zu machen, es seien drei Kilometer und sie habe es gut ausgeschildert. Nur die Moskitos, die seien gerade sehr aktiv, ich soll lieber eine Mütze aufsetzen, sie stechen gerne in den Kopf. Ich ziehe trotz der Wärme meinen Anorak über und marschiere los. Kaum im Wald fallen tausende von Mücken über mich her. Ich ziehe die Kapuze ganz tief ins Gesicht, stecke die Hände die Jackentaschen, durch die gummierte Beschichtung kommen sie nicht durch, aber durch die Jeans. Ich schwitze und rase durch den schönen Wald. Irgendwann kommt der See in Sicht. Ein paar Holzhäuser und ein wunderschöner großer See. Und die Moskitos bleiben im Wald. Ich ziehe die Jacke aus, ich bin nassgeschwitzt. Was für ein schöner Ort! Ich sitze eine Stunde am Ufer, um sieben soll es Essen geben, also mal wieder rein in das Insektenparadies. Dafür werde ich später im Haus von Marija mit einem traumhaften Salat aus ihrem Garten, selbstgemachten Rehravioli und frischen Erdbeeren verwöhnt. Dieser Ort ist unfassbar, alles ist so liebevoll und perfekt gestaltet und so still, dass es mir fast in den Ohren dröhnt. Ich erkunde nach dem Essen die Lichtung noch etwas, ein Reh springt über den Weg, ich kriege sofort ein schlechtes Gewissen wegen der Ravioli. In meiner Blockhütte schlafe ich wunderbar, diese Ruhe ist unfassbar. Nach dem phantastischen Frühstück gehe ich noch die Ziegen besuchen. Kurz überlege ich, ob ich noch eine Nacht bleiben soll, aber das Moskito-Erlebnis schreckt mich etwas ab. Mit einem guten Insektenspray ist der Ort aber der absolute Traum!
Marija beschreibt mir eine Route zur lettischen Grenze, kein Problem, sagt sie. Sagen wir es mal so: ich habe aus dem großen Wald wieder herausgefunden. Aber sicherlich nicht auf dem direkten Weg. Und ich habe es nach Lettland geschafft. Davon dann demnächst mehr.