So ein paar freundliche Seiten hat Corona ja doch. Als Dankeschön für’s Nicht-Kündigen hat mir der Verkehrsverbund für die nächsten Wochen freie Fahrt durch ganz BaWü geschenkt. Und so mache ich mich nach Marbach auf. Nicht das mit den Pferden, sondern das mit viel Literatur. Where are the horses, soll die Queen 1965 bei ihrem Besuch hier gefragt haben, hatte sie doch auf das Landesgestüt Marbach im Landkreis Reutlingen gehofft. But sorry, your majesty, in Marbach am Neckar wurde Friedrich Schiller geboren und oberhalb des mittelalterlichen Städtchens befindet sich der Literaturtempel Deutschlands.
Mit der S-Bahn dauert es keine halbe Stunde, um aus dem schwitzigen Kessel hierher zu gelangen. Vom Bahnhof führt ein kurzer, freundlicher Spaziergang zunächst zur Alexanderkirche. Orgelklänge dringen nach draußen und mich zieht es hinein. Das kühle Halbdunkel mit stimmungsvoller Musik eignet sich hervorragend, um das erstaunlich bunte Innenleben der über 500 Jahre alten Kirche zu genießen. 1490 wurde sie fertiggestellt, natürlich diverse Male renoviert und umgestaltet, aber trotzdem scheint das 15. Jahrhundert hier gar nicht so weit entfernt. Finstere Gestalten verbergen sich unter der Orgelempore, strahlende Heilige dominieren die Haupthalle und über allem spannt sich ein buntes Netzgewölbe. Ein netter Einstieg in den Marbach-Tag und zudem praktischer Touri-Tipp: im Nebengebäude befinden sich blitzsaubere öffentliche Toiletten.
Weiter geht es Richtung Altstadt. Die ist besonders gut erhalten und begrüßt mich mit putzigen Fachwerkhäuschen. Eines der ersten ist die Weinstube Zum goldenen Löwen, das Geburtshaus von Friedrich Schillers Mutter und nur ein paar Meter weiter erblickte der Dichterfürst selber 1759 das Licht der Welt. Ein kleines Zimmerchen und eine winzige Küche im Erdgeschoss, so lebte Familie Schiller im 18. Jahrhundert in Marbach. Lang blieben sie hier nicht, schon fünf Jahre später zogen sie weiter. So wirklich prägend war der Ort also nicht für den guten Friedrich, aber irgendwo muss der Kult halt betrieben werden.
In der hübschen Fußgängerzone geht es an diesem Vormittag recht gemütlich zu, ich setze mich in ein Café und genieße die Entspanntheit. Am Nebentisch zwei ältere Herren, die mit ihren E-Bikes unterwegs sind, beide wahrscheinlich so Mitte 70 noch einigermaßen gut in Schuss. In breitestem schwäbisch kommentieren sie das Weltgeschehen. Ihnen passt ne Menge nicht, aber ganz schlimm ist, dass „mir hier jetzt scho in der Minderheit sind“. Diese Ausländer überall! Ich schaue mich um – ich sehe hier nur sehr mitteleuropäisch wirkende Menschen, die Zeit zu haben scheinen. Und dann fällt doch tatsächlich der Satz „Der Adolf hätt des so ned zu’glasse, aber des darf mo ja ned sage.“ Hat er aber, dieser – Entschuldigung – Depp. Ich hüstele vom Nachbartisch herüber, sie gucken sich kurz um, dann geht es weiter. Keiner würde mehr vermieten wollen, hier und in der Umgebung, weil diese Ausländer sich nicht benehmen könnten. Das wissen die beiden genau, denn ein Bekannter habe seinen Mieter gekündigt, der sei aber nicht gegangen, „der Türk“. Aber die seien ja eh die einzigen, die sich die horrenden Mieten noch leisten könnten, denn da würde ja das Sozialamt zahlen. Während die beiden Sozialleistungsempfänger – ja, Rente gehört auch mit dazu – sich so ihren Kaffee schmecken lassen und weitere anscheinend nicht mehr berufstätige Menschen vorbei schlendern, sehe ich gegenüber, wie zwei Griechen ihre Gaststätte für das Mittagsgeschäft vorbereiten, eine freundliche Dame mit polnischem Akzent räumt die Cafétische ab. Wär ich jetzt irgendwie in Kampfeslaune gewesen, hätte ich den beiden alten Idioten zugerufen „Also die einzigen Menschen, die ich hier arbeiten sehe, scheinen einen ausländischen Hintergrund zu haben“, aber ich lasse es.
Von der Altstadt hab ich jetzt genug und mache mich auf den Weg hinauf auf die Schillerhöhe. Beim Altstadtturm statte ich der Wendelinskapelle aus dem 15. Jahrhundert einen kurzen Besuch ab. Würde ich hier wohnen, das wäre meine Buchhandlung. Ein sehr kleines Sortiment, aber eine sehr persönliche Beratung und das in einem wundervollen Ambiente.
Durch die alte Stadtmauer geht es moderat bergauf, das ist auch bei Temperaturen an die 30 Grad noch gut zu bewältigen. Und oben wartet die Abkühlung auf mich. Ich lasse den ziemlich unschönen Betonbau des Deutschen Literaturarchivs hinter mir, das Schiller-Nationalmuseum ist wegen Bauarbeiten geschlossen, schade, aber mich zieht es eh zum Literaturmuseum der Moderne. Der Chipperfield Bau, 2006 fertiggestellt, beeindruckt mit seiner kühlen Architektur und ebensolchen Temperaturen im Inneren. 18 Grad hat es hier aus konservatorischen Gründen. Corona macht alles etwas komplizierter als sonst, Masken und Handschuhe sind Pflicht, denn hier gibt es einiges zu berühren und zu spüren. Habt Ihr zum Beispiel schon mal euren Herzschlag gemessen während der Rezitation eines Hölderlingedichtes? Die Ausstellungsräume im Untergeschoss enthalten Schätze, von denen ich nicht wusste, dass sie so nah und so konzentriert versammelt sind. Originalhandschriften einmal quer durch die Größten der modernen deutschen Literatur, vom kleinen Notizbuchschnipsel bis hin zum vollständigen Manuskript. Die Klassiker gibt’s in der Sonderausstellung obendrauf, Schiller natürlich und Hölderlin darf in seinem Ehrenjahr natürlich nicht fehlen, Kafka, Celan, Hesse, Kästner, Walser, Handke bis hin zu Michael Ende – alles hier vorhanden. Tage kann man hier wahrscheinlich verbringen, aber nach anderthalb Stunden wird’s frisch und ich bin überwältigt. Jetzt habe ich einen ersten Eindruck, ich kann ja jederzeit wiederkommen.
Zum Aufwärmen drehe ich noch zwei Runden um das Gebäude, das an einen griechischen Tempel erinnert und von jeder Seite spannende Perspektiven, Ein- und Durchblicke bietet. Ein guter Gegensatz zum schwäbischen Fachwerkidyll unten in der Altstadt.
Noch einen Kaffee im bunten Gartenstuhl mit Blick auf das Nationalmuseum, dann geht er schon zu Ende, mein schöner Ausflug. Mal schauen, wo es nächste Woche hingeht.