Corona die Vierte.
Israel war immer schon ein ganz besonderer Sehnsuchtsort für mich. Bereits in der Schulzeit beschloss ich: da muss ich hin. Wie es damit genau anfing kann ich gar nicht sagen, ich weiß nur, dass das Buch Exodus von Leon Uris und die Verfilmung mit Paul Newman eine Rolle spielten. Nach dem Abi quälte ich mich durch drei Monate in einer uralten Konservendosenfabrik in Altona, um mir das Geld für den Flug zu verdienen und am 11.11.1984 war es soweit: ich startete mit meiner Freundin Katha nach Tel Aviv. Wir waren beide 19 und uns schwebten harte Arbeit auf den Feldern und abendliche Volkstänze inmitten glücklicher Kibbutzniks vor – so wurde es dann eindeutig nicht. Es war ein Abenteuer in Vor-Internet-Zeiten, wer damals Europa verließ, der war richtig weg. Briefe dauerten drei Wochen, telefonieren ging nur im absoluten Notfall und dass wir doch einige Tagesreisen von zuhause weg waren merkten wir, nachdem wir uns entschieden hatten, den Rückweg mit Schiff und Bus zu meistern. Aber wir waren ja zu zweit und hatten eine unvergessliche Zeit. Wir arbeiteten in Großküchen, pflückten Zitronen, betreuten alte Menschen, schrubbten Böden und melkten Kühe. Wir wohnten in klapprigen Hütten zusammen mit jungen Leuten aus der ganzen Welt und wir hatten den Spaß unseres Lebens. Im April 1985 kehrten wir nach Deutschland zurück und starteten im Jahr darauf noch mal – vier Wochen in den Semesterferien waren geplant, ich blieb dann aber sieben Monate und verliebte mich so sehr in meinen Job im Kuhstall, dass ich ernsthaft überlegte, für immer im Kibbutz zu bleiben.
Die israelischen Gemeinschaftssiedlungen waren der Versuch einer sozialistischen Gesellschaft – allen sollte alles gehören, jeder musste jeden Job machen, die Kinder wurden gemeinschaftlich erzogen und lebten außerhalb der Wohnung ihrer Eltern im Kinderhaus, gegessen wurde gemeinsam im zentralen Speisesaal. Geld bekam man für seine Arbeit nicht, dafür das Rundum-Sorglospaket: Haus, Essen, medizinische Versorgung, Betreuung im Alter, Bildung, Freizeitvergnügen. Wünsche darüber hinaus wurden erfüllt, wenn es die Gemeinschaft so beschloss.
Volontäre wie Katha und ich gehörten zum Kibbutzleben dazu. Für sechs Stunden Arbeit an sechs Tagen in der Woche bekamen wir freie Unterkunft und Verpflegung, Arbeitskleidung, eine Guthabenkarte für den winzigen Kibbutzladen, die ich vorwiegend in Schokolade und Aprikosenjoghurt investierte, ordentlich Zigaretten und das wöchentliche Highlight: die Disko. Es war eine sehr unbeschwerte Zeit mit Leuten aus allen Ecken der Welt, wir waren alle um die 20 und voller Neugier auf das Leben. Noch heute, ein bisschen wiedervereint in Facebook-Gruppen, schwärmen wir von den damaligen Zeiten und fast alle sind sich einig: it was the best time of my life.
Ein Jahr war ich insgesamt in Israel und als ich 1987 nach Hause zurückkehrte, hätte ich nicht gedacht, dass ich das Land erst fast 30 Jahre später wieder besuchen würde. 2013 war es dann soweit: Eric und ich flogen für 10 Tage nach Israel und so skeptisch er anfangs war: das Land hat ihn fasziniert. Aber auch ich hatte Bedenken: all die schönen Erinnerungen, was wäre, wenn es sich so verändert hat, dass ich „mein Israel“ gar nicht mehr wiederfinde? Wieder mal zu viel Sorgen gemacht: die Zeit dort war toll, obwohl das Kibbutzleben wie ich es kannte tatsächlich nicht mehr existiert.
Wir landeten in Tel Aviv, mieteten uns am Flughafen einen kleinen gelben Flitzer und fuhren direkt nach Haifa. Ein beschwingter Frühlingsabend, in den vollen Straßencafés waren Fernseher aufgebaut, das Champions League Finale stand an, Bayern München spielte gegen Borussia Dortmund. Undenkbar wäre das in den 80er Jahren gewesen, Israelis, die öffentlich deutschen Vereinen zujubeln. Damals war die Generation der Holocaustüberlebenden noch sehr präsent, vor allem in Haifa, und wir vermieden es, außerhalb des Kibbutz laut deutsch zu sprechen. Das hat sich vollkommen gewandelt, viele junge Israelis finden das heutige Deutschland cool und die Auswandererzahlen vor allem nach Berlin belegen das.
Am nächsten Morgen ging es einmal um die Bucht herum nach Akko. Die uralte Hafenstadt war zu Kibbutz-Zeiten ein sehr beliebtes Ausflugsziel bei uns: mit einer Flasche Wein den Sonnenuntergang auf der Festungsmauer mit Blick auf das Meer zu genießen gehörte zum Pflichtprogramm jedes Volontärs. Und weil in Israel ja nichts wirklich weit entfernt ist, schafften wir es danach noch, mit dem letzten Bus in den Kibbutz zurückzukehren. Der Zauber der orientalisch geprägten Altstadt nimmt Eric und mich sofort wieder gefangen. Die verwinkelten Gassen der Basare, die grandiose mittelalterliche Zitadelle und das strahlend blaue Mittelmeer – ein toller Ort.
Natürlich war ich neugierig, ob es meinen Kibbutz noch gab. Oder besser gesagt meine beiden, denn 1985 waren wir in Yif’at und 1986 in Hefzi-Bah im südlichen Galiläa. Vor allem der Spaziergang durch Hefzi-Bah ist dann ein sehr emotionaler. Der Kibbutz hat sich privatisiert, die alten Gemeinschaftseinrichtungen verfallen so stilecht als hätte das jemand extra für mich arrangiert. Ich laufe durch den bröckelnden Speisesaal, die Dekorationen vom Abschiedsfest hängen noch. Hier im Innenhof saß ich und putzte Gemüse, da vorne am Eingang musste ich meine Kuhdung-klebrigen Gummistiefel erstmal gründlich reinigen, bevor ich speisesaalfähig war. Rechts durch die große Tür haben wir uns in die Kühlräume geschlichen, kurz schmecke ich Weißbrot mit Margarine, damals fand ich’s lecker. Hier war das Zentrum des Kibbutz, hier tobte das Leben, jeder kam mindestens zum Mittagessen und blieb eine Weile, die meisten in blauer Arbeitskleidung. Da vorne war unser Tisch, der Tisch der Volontäre. Es war laut und fröhlich hier, eben ein bisschen jedermanns Ess- und Wohnzimmer. Und jetzt ist dieser Ort für den Abriss vorgesehen. Unsere Unterkünfte sind schon seit vielen Jahren verschwunden. Nur der Kuhstall – mein Kuhstall – ist noch voll in Betrieb. Um halb vier morgens ging’s los, hatte ich mich erst mal aus dem Bett gequält war es wunderbar, die kühle Morgenluft, die dampfenden Kühe, der starke türkische Kaffee und die erste Zigarette dazu, Radio Jordan, Broadcasting from Amman (zwar Feindessender, aber mit guter Musik) spielte laut im Melkstand. Ich bin froh, dass ich Eric das alles zeigen und kurz noch mal abtauchen kann in diese aufregende Zeit damals.
Wir übernachten in der Nähe im Hotel des Kibbutz Ein Harod , der nicht nur nette Unterkünfte, sondern auch ein sensationelles Olivenöl bietet, von dem ein kleiner Kanister in unser Reisegepäck wandert. Zum Abendessen fahren wir nach Beit She’an, im Shipudei Hakikar kommen zu den bestellten Grillspießen noch mehr als ein Dutzend Schälchen mit köstlichen Beilagen, den übervollen Tisch haben wir bis heute nicht vergessen.
Und dann auf nach Jerusalem. Der Weg führt durch die Westbank, karge Wüstenlandschaft und so ganz wohl fühlen wir uns nicht. Jerusalem ist in meinem Sehnsuchtsland Israel meine Sehnsuchtsstadt. Die Faszination, die von der Altstadt ausgeht, kann man kaum beschreiben. Jeder Quadratzentimeter hier ist Geschichte, uralte und aktuelle. Und dabei bin ich noch nicht einmal sonderlich religiös, aber allein schon die Ergriffenheit der Menschen aus aller Welt in der Grabeskirche, die sich auf den Salbungsstein Jesu stürzen, ihn berühren wollen, ist etwas ganz besonderes. Der Anblick der Klagemauer jagt mir genauso wie vor 30 Jahren einen Schauer über den Rücken, die Vielfalt der Menschen, die Symbolik des Ortes, diese ganz besondere Stimmung. Und darüber thront der Felsendom, zentraler Ort für Muslime, in seiner ganzen Pracht und Schönheit.
Der Nahostkonflikt hat auch Jerusalem seit damals verändert, der reglementierte Zugang zum Tempelberg, die Mauer, die wir auf der Fahrt hierher passiert haben, das gab es in den Achtzigern noch nicht. Muss man sich positionieren, wenn man Israel besucht? Nein, muss man nicht, finde ich. Denn ich muss mich auch nicht positionieren, wenn ich Dubai besuche oder die Türkei oder Myanmar oder China. Oder die USA. Ich finde nicht alles gut, was die Israelis machen, aber das trifft genauso auf die Palästinenser zu. Das mag mal meine Position sein.
In der Altstadt kann man tagsüber wunderbar in einem der vielen kleinen Cafés etwas abseits der geschäftigen Basarstraßen sitzen. Eric gönnt sich die ein oder andere Wasserpfeife, ich sauge die Atmosphäre ein. Am Abend leeren sich die tagsüber so belebten Gässchen und Plätze allerdings rasch, die Restaurants und kleinen Läden schließen, in den dunklen Sträßlein kann man sich jetzt fast verirren. Wir laufen hinüber in die Neustadt, die vor allem mit gutem Essen überrascht, hippe kleine Restaurants mit ungewöhnlichen Crossover-Kreationen, in denen man gerne lange sitzen bleibt.
Am nächsten Tag besteigen wir den Ölberg, vorbei am Garten Gethsemane, der russischen Kirche und den vielen Gräbern. Der Blick hinüber auf die Altstadt ist von hier oben am schönsten, Jerusalem of Gold, hier leuchtet es uns entgegen.
Wir machen einen Tagesausflug weiter in den Süden ans Tote Meer und nach Masada. Zu Kibbutz-Zeiten hatten wir am Fuße der Felsenfestung übernachtet, um den Berg früh morgens zu erklimmen wegen des schönen Sonnenaufgang über der Judäischen Wüste. Heute erklimmen wir ihn immer noch zu Fuß, aber zu zivileren Zeiten. Es ist heiß und staubig, wir sind fast allein auf dem Weg, denn es gibt auch eine bequeme Seilbahn, aber das ist gegen unsere Globonautenehre. Die Palastfestung von König Herodes war um 74 n. Chr. in den jüdischen Kriegen Zufluchtsort für hunderte Rebellen. Die Römer belagerten die Festung und bauten eine Rampe, um das Hochplateau zu erobern. Als sie es endlich geschafft hatten, hatten sich die Menschen in der Wüstenfestung umgebracht.
Von hier oben hat man einen grandiosen Blick über das Tote Meer. Der Salzsee macht seinem Namen alle Ehre und stirbt mangels Wasserzufuhr vor sich hin. Viel größer habe ich ihn in Erinnerung und die trügt mich tatsächlich nicht: seit den Achtzigern ist der Wasserpegel jedes Jahr um einen Meter gesunken und damit fehlen jetzt fast 30 Meter. Ein Bad in der Salzlake ist natürlich trotzdem Pflicht, genauso wie das Schlammbad davor, und es ist noch genauso faszinierend wie damals: man geht hier einfach nicht unter. Am tiefsten Punkt der Erde, 420 Meter unter dem Meeresspiegel. Den Spaß am Umhertreiben im öligen Nass beeinträchtigt höchstens die Angst, das supersalzige Zeugs ins Gesicht und vor allem in die Augen zu bekommen.
In weniger als zwei Stunden sind wir zurück in Jerusalem. Und am nächsten Morgen brauchen wir gerade mal eine Stunde nach Tel Aviv. Unser letzter Tag ist angebrochen, in der Nacht fliegen wir zurück nach Deutschland. Tel Aviv gehörte früher nicht zu meinen Favoriten, ich fand es hektisch und laut, aber hin musste man immer mal wieder, sei es zum Einkaufen, ins Kino gehen oder für das phänomenale Konzert der Waterboys in einem winzigen Klub mit anschließender Übernachtung am Strand. Aber – wow Tel Aviv, du bist toll geworden! Die Stadt hat sich auf ihr kulturelles Erbe besonnen und viele der über 4000 Bauhaus-Gebäude instand gesetzt. Wir streifen durch die „Weiße Stadt“ bis uns nach Erholung zumute ist – und der lange Stadtstrand ist einfach der perfekte Ort für ein Sonnenbad, ein kühles Bier und eine Abschiedswasserpfeife. Nur noch ein paar Stunden, dann geht’s zurück. In einem Hinterhof finden wir ein Restaurant, dass zuvor wohl eher eine Garage war, davor Tische und Stühle, im allerbesten Popup-Stil. Sehr cool, sehr hip und auch sehr lecker. Ein schöner Ausklang einer Reise in meine Vergangenheit. Hat’s dir gefallen, frage ich Eric, und er nickt. Das hätte er nicht erwartet, sagt er. Ein tolles Land und eine außergewöhnliche Stimmung. Jetzt nicke ich, glücklich und erleichtert. Ja, Israel war und ist faszinierend und auch wenn das jetzt sehr kitschig klingt: es wird immer einen großen Platz in meinem Herz haben.
Liebe Julia, hab’s gerade erst gelesen und sofort den Geruch und die Geräuschkulisse präsent, ob in Tel Aviv am Busbahnhof oder im Kibbuz auf dem Weg zum dining-room. Es war definitiv „the best time of our life“.
Danke für Dein Hervorholen der Erinnerung, krieg mein wehmütiges Grinsen jetzt nicht mehr von der Backe, liebe Grüße, Deine Katha
❤️