Eigentlich sollte es nur ein Rückweg sein, vom schönen Litauen ins heimische Schwabenland. Aber Polen hat so viel zu bieten, da dauerte die Fahrt nach Deutschland schließlich doch fast drei Wochen.
Den ersten Stopp lege ich in Białystok ein. In die östlichste Großstadt Polens, 50 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt, verirren sich nur wenige deutsche Touristen. Starke Zerstörungen im 2. Weltkrieg, Industriezentrum, ich erwarte nicht allzu viel. Doch der erste Gang durch das frühabendliche Stadtzentrum belehrt mich ganz schnell eines Besseren: ein heiterer Sommerabend, viel Grün rund um die Altstadt, der stimmungsvoll beleuchtete Branicki-Palast, eine fast mediterrane Atmosphäre in der breiten Fußgängerzone. Auf dem Marktplatz rund um das barocke Rathaus tobt das Leben, ein Straßenrestaurant reiht sich ans nächste, eine sprudelnd lebendige Atmosphäre. So fast schon italienisch hätte ich mir Polens fernen Osten nicht vorgestellt.
Die Grenzlage prägte Białystok über die Jahrhunderte – Polen, Russen, Belarussen und Deutsche bevölkerten die Stadt im Laufe ihrer Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts waren 70% der Bevölkerung Juden. Durch die Straßen schwirrten Jiddisch, Polnisch, Russisch und Deutsch. Der perfekte Nährboden für den revolutionären Versuch, eine Weltsprache zu etablieren. 1887 begründete Ludwik Zamenhof in Białystok die Plansprache Esperanto. Seinen Spuren begegnet man noch heute an vielen Ecken der Stadt.
Ein Muss ist der Besuch des Branicki-Palasts, unübersehbar am Rande der Altstadt gelegen. Die barocke Pracht geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Kaum zu glauben, dass die gesamte Anlage 1944 zerstört und bis 1960 wieder aufgebaut wurde. Heute ist hier die medizinische Universität untergebracht. Besonders schön wandelt es sich in der barocken Gartenanlage hinter dem Palast.
Lohnen tut sich der Aufstieg zur weithin sichtbaren modernistischen St. Rochus Kirche im Westen der Innenstadt. 1927 begonnen konnte der Bau erst 1946 fertiggestellt werden – zwischenzeitlich wollten die Russen sie auch mal für einen Zirkus nutzen. Aber der Katholizismus siegt in Polen irgendwie immer.
Ganz und gar unerwartet und sehr spannend ist die Street Art in Białystok. Mehr als 30 Wandgemälde sind über die Innenstadt verstreut und viele findet man nur mit einer Karte, die es auch interaktiv gibt. Nicht nur das „Mädchen mit der Gießkanne“ zaubert einem ein Lächeln ins Gesicht.
Sehr empfehlenswert ist das gerade mal ein Jahr alte Sybir Memorial Museum, das den nach Sibirien Verschleppten gewidmet und einmalig in Polen wenn nicht sogar weltweit ist. Man sollte Zeit mitbringen, um in die Geschichte dieser Deportationen, die bereits im 16. Jahrhundert begannen, einzutauchen. Wenig wusste ich bisher über die Verschleppungen, denen Millionen von Polen zum Opfer fielen. Viele Erläuterungen oder gar politische Interpretationen braucht es nicht – das Grauen spricht für sich.
Mein Fazit nach vier Tagen Białystok: ein Besuch lohnt sich sehr! Auf keinen Fall verpassen, wenn man den weiten Weg in den Osten Polens gemacht hat. Und am besten noch verbinden mit einem Besuch im etwa eine Stunde südöstlich gelegenen Nationalpark Białowieża. Einer der letzten Urwälder Europas, den sich Polen mit Belarus teilt. Der Europäische Gerichtshof stoppte glücklicherweise die Abholzungspläne der polnischen Regierung und so tummeln sich weiter Wisente, Elche und wanderfreudige Touristen im Park. Zu denen geselle ich mich für zwei Tage, spaziere staunend durch die grandiose Waldeinsamkeit und betrachte die europäischen Bisons lieber am Rande eines schützenden Zauns.
Jetzt aber langsam auf gen Westen. Eine freundliche Übernachtung am Rande von Warschau, ohne die Stadt zu besuchen – irgendwas muss ich mir doch aufsparen für die nächste Polenreise – und dann Richtung Oberschlesien. Kurz vor Kattowitz liegt Tschenstochau und ich wollte eigentlich nur einen kleine Kaffeestopp mit einem kurzem Besuch des Paulinerklosters verbinden. Dann gerate ich ganz ungeplant in die Abschlussveranstaltung der „großen Nationalwallfahrt von Warschau zum Gnadenbild der schwarzen Madonna“. Ich bin weder katholisch noch gläubig, aber dieser Nachmittag inmitten polnischer Religiosität ist wirklich ein Erlebnis. Ein nicht enden wollender Zug von Gruppen zieht von der Stadt hinauf zum Jasna Góra, dem Hügel, auf dem das Kloster steht. Lachend, singend, tanzend laufen sie zur großen Rasenfläche vor dem Kloster, ein riesiger Freiluftgottesdienst und eine Stimmung wie bei einem gigantischen Familienausflug. Ich schließe mich den Massen an und spaziere durch das Kloster, so viele Menschen… Und dann erhasche ich tatsächlich einen Blick auf die schwarze Madonna, komme mir fast wie eine Betrügerin vor, weil ich wohl die einzige hier bin, die so gar nichts mit dem Bild verbindet. Trotzdem, ein unerwartet tolles Erlebnis. Mittlerweile ist es fast schon Abend, jetzt aber weiter nach Kattowitz.
Oberschlesien ist nicht unbedingt eine klassische Urlaubsgegend, viel Industrie, viel Bergbau, viele zerstörte Städte, viele Plattenbausiedlungen. Das gilt besonders für Katowice, wie die schlesische Hauptstadt heute heißt. Wenig ist von der historischen Altstadt erhalten, riesige Wohnblocks säumen die Straßen. Aber: Kattowitz kommt! Man setzt auf Kultur. Das neue Konzerthaus ist hochgelobt, die vielen Ausstellungen im Schlesischen Museum in einem früheren Bergwerk kann man an einem Tag gar nicht ausreichend erfassen. Nicht verpassen sollte man die Dauerausstellung „Das Licht der geteilten Geschichte“. Hier kann man durch die Gassen des untergegangenen Kattowitz bummeln, sich mal wie in Deutschland, Österreich, Tschechien oder Polen fühlen und alles über die multikulturelle Geschichte Oberschlesiens erfahren. Nicht vergessen, danach den Aufzug auf einen der alten Fördertürme zu nehmen, der Blick von oben über die Stadt ist klasse!
Obwohl die sozialistischen Bausünden vieles dominieren, findet man abseits der breiten Straßen doch auch einige Schätze: gut und großflächig erhaltene Zwischenkriegsarchitektur, den Schlesischen Park, der größte Stadtpark Europas, und als besonderes Highlight die historische Arbeitersiedlung Nikiszowiec. Die zwischen 1908 und 1924 entstandene Backsteinsiedlung ist vollständig erhalten und entwickelt sich zum In-Viertel. An den Häusern gibt es so viele Details zu entdecken und wenn man wissen möchte, wie es sich früher hinter diesen Mauern lebte, sollte man das tolle Museum im ehemaligen Waschhaus in der Rymarska 4 besuchen. Übertroffen wird alles nur noch von den himmlischen Jagodzianki, Hefeteigtaschen mit Blaubeeren, im Cafe Byfyi.
Mein Fazit für Kattowitz: keine klassische Schönheit, aber eine lohnenswerte und spannende Stadt auf dem Weg zur Kulturmetropole, in der es so viel zu entdecken gibt!
Weiter geht es durch Oberschlesien, mein nächstes Ziel ist Opole, das frühere Oppeln. Ein freundliches Städtchen mit einem schönen Marktplatz, gemütlichen Cafés in den Altstadtgassen und einer hübschen Silhouette am Mühlgraben (beworben als Oppelner Venedig – och ja 🙂 ). Ganz toll fand ich wieder mal ein Museum. Das „Museum des Oppelner Schlesiens“ ist über mehrere Gebäude unterhalb der Universität verteilt. Sehr sehenswert ist das Haus in der ul. Wojciecha 9. In dem mehrstöckigen Haus warten mehrere perfekt ausgestattete Wohnungen aus unterschiedlichen Epochen auf Zeitreisebegeisterte. Ein Aufruf in Zeitung und Radio führte dazu, dass die Oppelner dem Museum so viele Alltagsgegenstände spendeten, dass locker noch ein weiteres Haus damit ausgestattet werden könnte. In den mit viel Liebe zum Detail gestalteten Räumen kann man durch die Jahrzehnte hinauf bis zum Wäscheboden steigen und dabei von 1890 bis 1965 reisen. Ich fand’s toll!
Ein veritables Unwetter, das arg an den Bäumen vor meinem Hotel zerrt, ihre Äste über die Straße verstreut und viel viel Regen bringt, beendet das angenehme Sommerwetter der letzten Wochen. Von meinem nächsten Ziel
Liegnitz sehe ich daher fast nur mein Hotelzimmer. Aber das macht richtig Spaß, ein äußerst gemütlicher Raum, ein perfektes Frühstücksbuffet, ein wohliger Whirlpool nach einer Runde auf dem Laufband machen auch mal für mehr als einen Regentag gute Laune. Das schlechte Wetter will so gar nicht aufhören, aber das ist wahrscheinlich Teil einer freundlichen Inszenierung, um meinen Abschiedsschmerz zu mildern. Ein Stündchen bis zur deutschen Grenze und das war’s mit meiner großen Polen-Litauen-Reise. Ein Nachmittag im herrlichen Meißen, ein kurzer Abstecher nach Treuen im Vogtland – Sachsen enttäuscht auch hier wieder nicht. Und dann stehe ich auf dem Bahnhof von Ansbach und warte auf Eric für das erste gemeinsame Wochenende seit wirklich langer Zeit. In Franken begann meine Reise, hier endet sie auch wieder.
Dreieinhalb Monate und 8000 Kilometer, durch Ostdeutschland, Polen und Litauen. Krieg und Corona waren kein Hindernis, im Gegenteil. Die selbstbewusste Art insbesondere der Litauer, mit der neuen alten Bedrohung umzugehen und die europäische Freiheit und Sicherheit über den Erhalt des eigenen Lebensstandards zu stellen, war sehr lehrreich für mich. Der Panikmache und dem steten Ruf nach staatlicher Kompensation in Deutschland begegne ich seither noch distanzierter. Auch die Einstellung zum im Westen so beliebten „Ossi-Bashing“ ändert sich, wenn man einfach mal hinfährt. 25% AfD im Osten bedeutet eben auch, dass die große Mehrheit den Rechtspopulisten keine Stimme gibt.
Meinen Plan, die Ostsee zu umrunden, durch das Baltikum nach Skandinavien, habe ich in Litauen aufgegeben. So viele Eindrücke, so viele Erlebnisse, fünf weitere Länder hätten mein Kapazitätskonto eindeutig überzogen. Denn so wie sie war, war die Reise perfekt. Der Traum vom einfach-ins-Auto-setzen-und-losfahren: erfüllt! Einfach da bleiben, wo es schön ist: gemacht! Meinen Ahnen auf die Spur kommen: ja! Jetzt muss ich erst mal alles sacken lassen. Und mich bereit machen für die nächsten Abenteuer. Denn bald geht es weiter 🙂