On the road again

Ich bin wieder unterwegs. Zwar nicht mit der Aussicht auf eine Weltumrundung und in drei Wochen werde ich wieder zuhause sein, aber ich habe Zeit, zwei Länder zu erkunden, die mich immer schon gereizt haben: Litauen und Lettland. Und seit Rumänien hat es mir der Osten Europas ja sowieso angetan. Julia geht an Bord – kein Flugzeug diesmal, sondern ein Schiff. 20 Stunden von Kiel nach Klaipeda, dem früheren Memel, immer entlang der Ostseeküste.
Aber vorher mache ich einen Abstecher nach Bremen. Fast meine Geburtsstadt, wären meine Eltern nicht im Januar 1965 von dort weggezogen. Ahnenforschung ist ja mein großes Thema und über all die alten Urkunden und verstaubten Dokumente habe ich fast die Lebenden aus dem Blick verloren. Meine Cousine Kerstin ist meine nächste noch lebende Verwandte und wir haben uns das letzte Mal vor über zwanzig Jahren gesehen.
Bremen hält trübes Wetter für mich parat – aber die Deutsche Bahn hat das wahrscheinlich gewusst und erspart mir zwei Stunden norddeutscher grauer Suppe. Allerdings hätte ich mit denen was besseres anzufangen gewusst, als in verspäteten Zügen herumzuhängen. Ach, und es waren nicht zwei, sondern nur eine Stunde 50 Minuten. Ab zwei Stunden hätte ich nämlich die Hälfte des Reisepreises zurück bekommen und wir wollen doch mal korrekt sein.
Egal, ich habe zwei Nächte in Bremen und am ersten Abend reicht es immerhin für Pannfisch auf dem Bremer Rathausmarkt. Der Roland hat immer noch so spitze Knie wie früher, aber das würde mir heute gar nicht mehr auffallen. Als Kind endete mein Blick an diesen Pieksern und auch den gesamten Rathausmarkt habe ich viel größer in Erinnerung.
Diese unterschiedliche Wahrnehmung wird dann auch den nächsten Tag dominieren – wie anders Kerstin und ich doch viele Ereignisse unserer Kindheit in Erinnerung haben. Ob wir uns wohl wieder erkennen, fragte Kerstin am Telefon. Sofort und ohne Zweifel! Wir versichern uns gegenseitig, wie gut wir uns gehalten haben, klasse Gene halt 🙂 Geplant war ein gemeinsamer Kaffee, nach fast acht Stunden schöner und nicht so schöner Geschichten und einigen Alsterwassern trennen wir uns schweren Herzens und versprechen, den Kontakt jetzt nicht mehr abreißen zu lassen.
Mein nächstes Ziel ist Kiel. In Hamburg treffe ich Coco für einen kurzen Essensstopp. Ich hatte es schon zur Tradition werden lassen, jede Gelegenheit für einen Backfisch bei Daniel Wischer in der Spitaler Straße zu nutzen. Meine sporadischen Hamburg-Besuche haben ihn aber wohl nicht retten können, der Laden heißt jetzt „Ahoi by Steffen Henssler“ und der Typ geht mir schon im Fernsehen gehörig auf den Keks. Natürlich leiht er dem Restaurant nur seinen Namen, aber vielleicht sollte er ab und an vorbei schauen, seine Leute haben es leider nicht im Griff. Muss ich natürlich auch TripAdvisor schreiben :-). Aber es geht jetzt ja um Schöneres, nämlich um Litauen!
In Kiel trennen mich nur eine kurze Busfahrt und ein Spaziergang vom Ostuferkai, an dem das Schiff nach Klaipeda am Abend ablegt. Nur ganz wenige Passagiere reisen ohne fahrbaren Untersatz. Ich marschiere mit meinem Trolley an der langen Schlange der wartenden Autos vorbei und nach kurzer freundlicher Abfertigung warte ich mit drei anderen Passagieren in einem Terminal, das größer als der gesamte Flughafen auf Rodrigues ist. Aber immer noch sehr überschaubar. Wir kriegen einen eigenen Shuttle-Bus und ich betrete das Schiff als erste. Rolltreppen bringen mich nach oben zur Rezeption, ja, die Zeiten, in denen ich den billigen Pullman-Seat gebucht hätte, sind vorbei, ich habe eine Kabine reserviert. Ich tausche meine Bordkarte gegen den Kabinenschlüssel und besichtige meine Koje. Sehr nett, ein gemütliches Bett, blütenweiß bezogen unter einem großen Fenster, ein kleines Bad, ein Obstkorb, der Rezeptionist war jetzt zwar nicht Sascha Hehn, aber ich bin zufrieden. Noch wartet aber Spannenderes auf mich. Die Beladung des Schiffes ist im Gang und in einer dreiviertel Stunde legen wir ab. Vom Hubschrauberdeck aus beobachte ich, wie die Lastwagen, Wohnmobile und Autos auf das Schiff sortiert werden – das hat was von Tetris. Hier bitte wenden, da bitte rückwärts rein, schnell ausgestiegen, denn der nächste wird versuchen, Türgriff an Türgriff zu parken. Und dann ist das Deck unter mir voll. Klappe hoch, Motoren an, Liegezeiten scheinen auch hier teuer zu sein. Noch vor neun tuckern wir hinaus auf die Kieler Förde. Die Aida überholt uns, ja jetzt aber! Die Sonne geht über Kiel unter, ich kenne schönere Städte, aber ein freundlicher letzter Eindruck von Deutschland.
Schnell sind wir auf der offenen Ostsee, jetzt ist Zeit für ein erstes litauisches Bier. Die Preise an Bord sind zivil, drei Euro für eine süffige Halbe, deren Namen ich leider trotz mehrfachen Vorsprechens der Dame an der Bar nicht richtig hinbekomme. Ganz was anderes, dieses litauisch. Eindeutig östlich, aber auch skandinavisch. Jedenfalls versteht man kein Wort. Zum Glück sind die Ansagen an Bord auch auf deutsch und englisch. Draußen wird es langsam kühl, ich freue mich auf meine gemütliche Kabine, schlafe dann aber ziemlich schlecht und wache früh auf. Vielleicht ist es die laute Lüftung oder die frühe Helligkeit am nächsten Morgen, aber egal. Frühstück gibt es um diese Zeit noch nicht, aber gestern Abend hatte ich einen Kaffeeautomaten im Restaurant gesehen. Für einen Euro spuckt er ein ziemlich widerliches Gebräu im Plastikbecher aus. Später gibt’s dann ein freundliches Frühstücksbuffet und leckeren Kaffee, da ist die Plörre wieder vergessen. Was die Victoria Seaways vom Traumschiff eindeutig unterscheidet, ist das fehlende Outdoor-Entertainment. Ein paar Bierbänke oberhalb der Fahrzeuge, über dem riesigen Hubschrauberdeck lacht zwar ab und an die Sonne, aber sitzen kann man nur auf dem Boden. Damit jederzeit ein Hubschrauber landen kann, wahrscheinlich 🙂 Die Sicht ist schlecht, alles recht dunstig und dabei hatte ich doch gehofft, einen Blick auf Hinterpommern werfen zu können. Nix da, das erste Land sehe ich kurz vor Klaipeda. Erst die Industrieanlagen des Hafens und dann den Landstreifen der kurischen Nehrung. Eigentlich rieche ich ihn eher, es duftet nach Nadelbäumen. Wir legen an und die Entladung geht ebenso schnell und professionell wie in Kiel vonstatten. Der Taxifahrer verlangt 10 Euro bis zu meinem Hotel, zu viel, das ist mir klar, aber ich habe keine Lust, mich zu ärgern. Eine kleine Pension in der Nähe der Altstadt, dahin mache ich mich sofort auf. Im Laufen merke ich immer deutlicher, dass mein Fuß zwickt, der rechte „Zeigezeh“, ich hatte schon gestern gemerkt, dass er blau und grün ist. Keine Ahnung, was da passiert ist, wird schon wieder weggehen. Die Altstadt von Klaipeda, dem früheren Memel, ist überschaubar. Aber ich bin zu müde und hungrig für Sightseeing, nehme gerade mal den Marktplatz in Augenschein, morgen ist ja auch noch ein Tag.

Wenn krank, dann hier

Und der beginnt mit der Gewissheit, dass das nicht gut ist mit dem Zeh. Es tut weh. Ziemlich weh. Was ist denn da nur passiert? Ist der wohlmöglich gebrochen? Neben der Pension ist eine kleine Klinik. Ich beschließe, da mal nachzufragen. Wenn sie schon in der Nachbarschaft ist. Mit Englisch kommt man in Litauen nur bedingt durch, aber von meinem letzten Zahnarztbesuch bei der Inseldoktorin in Costa Rica weiß ich ja, dass Google Translate die Lösung ist. Deswegen tippe ich präventiv „Ich glaube, ich habe mir den Zeh gebrochen“ ein und trage offene Sandalen, um das blaue Exemplar präsentieren zu können.
Die Krankenschwester erkennt meine Not, gibt mir aber zu verstehen, dass ich nicht in der richtigen Klinik sei. Also humple ich ein paar Straßen weiter, zeige wieder mein Handy mit dem Text und den Fuß vor und treffe auf eine gut englisch sprechende Schwester. „I think we can help you“, sagt sie aufmunternd. Eine Stunde später ist der Fuß geröngt, der Zeh ist nicht gebrochen, dafür jetzt aber an seinem Nachbar festgeklebt, ich habe ein Rezept für ein Schmerzmittel und eine Salbe, bin sehr erleichtert und ziemlich angetan von der litauischen Krankenversorgung. War eine ziemlich menschliche Atmosphäre dort, der Arzt hat sich Zeit genommen, das Röntgenbild ganz intensiv betrachtet und mir ein gutes Gefühl gegeben. Ich kann ruhig laufen, halt den Fuß abends hochlegen und dann gäbe es ja noch dieses Schmerzpulver. Das wirkt Wunder, der Zeh zwickt zwar noch, aber kein Problem.
Das war also meine Klaipeda-Erfahrung. Schade, ein nettes Städtchen mit viel maritimem Flair. Aber ich muss weiter, die kurische Nehrung mit ihrem verführerischen Duft wartet auf mich. Mal schauen, ob das auch dem Zeh gefällt.

 

 

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