Ein zweiter großer Urlaub in diesem Jahr sollte es werden, aber mit ein bisschen mehr innerer Einkehr. Nach dem großartigen Usbekistan wollte ich mich eigentlich auf die große Ahnenreise machen, nach Pommern und an die polnische Ostseeküste. Das Auto war gebucht, ein Zwischenstopp zur Apfelernte bei Coco in MeckPomm verabredet und dann schlug das zu, was man formal einen Trauerfall im engsten Familienkreis nennt. Mitten aus dem vollen Leben heraus und vollkommen unerwartet. Und nicht die Generation vor uns, Eltern oder alte Menschen, die schon lange leiden, bei denen man von einer Erlösung oder einem langen Leben spricht. Es betrifft nicht meine, sondern Erics Familie und damit ja eigentlich doch meine, aber einen Namen und Verwandtschaftsgrad zu nennen, steht nur Eric zu.
Die Trauer ist eine Seite, die Fassungslosigkeit eine andere und bei allem schwingen die Gedanken mit, die ich mir über mein eigenes Leben mache. Wenn es mich treffen würde, könnte ich auf ein erfülltes Leben zurückblicken? Was habe ich erreicht, was hinterlasse ich, was bleibt von mir? Alles Gedanken, mit denen ich nicht an einer herbstlich-grauen Ostseeküste allein sein möchte. Also rein ins Leben und nach einer gar nicht so einfachen Suche (Algarve? Kapverden? Südtirol?) habe ich mich für eine Städtereise entschieden. Und weil ich Polen sowieso auf dem Plan hatte und Essen und Trinken bekanntlich ja Leib und Seele zusammenhält, bin ich jetzt in Wroclaw angekommen. Breslau, sagte ich der netten Dame beim Einchecken, die den Namen so gar nicht aussprechen konnte, und sie grinste und meinte „Das ist besser.“. Aber wie in Rumänien auch, wo Orte wie Sibiu oder Brasov ohne jedes revisionistische Geschmäckle Hermannstadt und Kronstadt genannt werden dürfen, scheinen sie hier kein Problem mit dem deutschen Namen der Stadt zu haben.
So richtig Glück mit dem Wetter hatte ich bisher nicht in Polen. Vor zwei Jahren in Krakau war es kalt und hier regnet und windet es. Vielleicht sollte ich es doch mal mit den Sommermonaten versuchen 🙂 Die Nässe treibt mich einerseits in die wunderschönen Cafes der Stadt und von denen gibt es einige. Und dann ins Stadtmuseum, damit müsste man eigentlich anfangen, um die Stadt ein wenig zu verstehen. 1000 Jahre Stadtgeschichte, eine polnische Gründung, mit wechselvollen Zugehörigkeiten, mal zu Böhmen, mal zum habsburgischen, preußischen oder deutschen Reich und jetzt eben wieder zu Polen. In der Altstadt Breslaus wird man an jeder Ecke auf die
deutsche Vergangenheit der Stadt gestoßen, Bauweise, Inschriften, die Galerie berühmter Schlesier im alten Rathaus, die fast nur deutsche Namen umfasst. Ein ganz merkwürdiges Gefühl, das ich schon von meinem Besuch im pommerschen Schivelbein, dem heutigen Swidwin, kenne. Eine deutsche Kulisse, der die Polen das Leben einhauchen. Aber man stolpert auch stetig über den Namen einer weiteren Stadt, die in der heutigen Ukraine liegt und in die ich auch gerne gefahren wäre: Lemberg oder ukrainisch Lwiw. Denn nachdem die Deutschen aus Breslau flüchten mussten, kamen die Vertriebenen aus Lemberg und ließen sich hier nieder. Und bauten das Desaster, das die Deutschen ihnen hinterlassen hatten, liebevoll wieder auf.
Breslau steht für eine der sinnlosesten Zerstörungen des zweiten Weltkriegs. Für die Sicherung der „Festung Breslau“ in einem schon verlorenen Krieg wurden Menschen und Gebäude, der Geist einer ganzen Stadt, geopfert. Neben den mir bisher bekannten Nazi-Verbrechern hat sich Gauleiter Karl Hanke hier als Oberidiot hervorgetan, der „Henker von Breslau“. Nach hunderten Bürgern schnell noch mal den Bürgermeister von Breslau umgebracht, weil der das Leben der Verbliebenen retten und die Stadt übergeben wollte. Und sich dann selber aus dem Staub machen. Nachdem der Herr Gauleiter im Januar 1945 tausende von Frauen und Kinder in die Winterhölle „evakuierte“, die viele nicht überlebten.
Die Stadt ist wieder auferstanden und heute eine der wohlhabendsten in Polen. Die Uni mit ihren vielen Erasmusstudenten lässt sie jung und international erscheinen, aber in der Altstadt fallen auch viele recht alte Touristen auf und man spürt sofort – hier war einmal ihre Heimat. Der Marktplatz Rynek ist das Herz der Altstadt, bunte Bürgerhäuser rundum mit gemütlichen, untouristisch günstigen Restaurants, das backsteinerne alte Rathaus neben dem neugotischen neuen Rathaus in der Mitte, ein lebendiges Zentrum. An der Ecke zum Salzmarkt mit seinen Blumenständen scheint sich eine Bank mit einem Neubau versündigt zu haben. Wenn man näher kommt, wird aber klar, dass es sich um die schon früh sehr moderne Seite Breslaus handelt – Bauhaus. Avantgardebauten gibt es noch einige hier, aber die erkunde ich später. Zuerst muss ich die alten Gebäude genießen, die beeindruckenden Backsteinkirchen, die Passagen und Gässchen, die verborgenen Innenhöfe und Gärten. Historisches Islandhopping, denn die Innenstadt liegt auf mehreren Inseln in der Oder.
Und dann diese tollen Cafes! Überall findet sich ein gemütliches Eckchen für einen leckeren Kaffee oder „Herbata“, Kräutertee. Traditionell polnisches Essen neben hippen Sushi-, Burger- und Pokebars, alles recht günstig und sehr lecker. Die Straßen rund um den Marktplatz sind fast alle autofrei, E-Roller kurven natürlich auch hier schon und das Angebot der Geschäfte kennt man leider aus deutschen und wahrscheinlich fast allen europäischen Innenstädten. Aber das Bummeln macht hier mehr Spaß, weil man überall Neues entdeckt. Zum Beispiel viele wundersame Zwerge, denen ich demnächst einen ganzen Tag widmen möchte.
Mein erstes Fazit: ein toller Ort für eine tolle Städtereise! Wroclaw berührt und begeistert. Im Sommer wahrscheinlich noch mehr als jetzt im kühlen Herbst, aber der sorgt dann für Genuss in den Museen und Cafes. Also eigentlich doch was für jede Jahreszeit!
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