Wir sind wieder unterwegs. Das erste Mal wieder gemeinsam seit dem Ende unserer großen Reise. Es sind diesmal nur drei Wochen, aber doch so exotisch, dass uns die Erinnerungen regelmäßig überfallen. Incredible India – auf unserer Weltreise haben wir es nicht hierher geschafft, aber davor waren wir schon ein paar Mal da und jedes Mal begeistert. Das gelassene Kerala im Süden, die Althippies von Goa, das chaotische Delhi, die Märchenstädte Rajasthans, Varanasi mit seinen verstörenden Leichenverbrennungen, Kalkutta, die Tiger von Westbengalen, eine andere Welt in Ladakh im Himalaya. Und jetzt endlich mal Mumbai und das touristisch wenig erschlossene Gujarat ganz im Westen.
Der Flug aus Deutschland und die ersten Tage in Mumbai sind vollkommen unproblematisch. Was auch daran liegt, dass Mumbai an vielen Stellen eher wie ein tropisches London nach dem Brexit wirkt – die Kolonialbauten würden gut in jeden Harry Potter-Film passen, Hitze, Feuchtigkeit, Sorglosigkeit und Geldmangel nagen aber an ihnen. Der Verkehr ist für indische Verhältnisse nachgerade gesittet, alle fahren in die selbe Richtung und so gut wie keine Kühe. Mumbai hat keine echten touristischen Attraktionen, das koloniale Erbe und die Lage direkt am Meer, das sind die Hauptsehenswürdigkeiten. So schauen wir uns also den prachtvollen kolonialen Bahnhof an, flanieren über die Uferpromenade und landen später am „Gate of India“, durch das die letzten britischen Soldaten die ehemalige Kolonie verließen. Das Taj Mahal Palace Hotel gegenüber ist zwar eine Pracht, hat aber vor allem aber durch die Geiselnahmen bei den Terrorangriffen 2008 traurige Berühmtheit erlangt. Also machen wir das, was man im Urlaub sonst eher nicht tut: wir schauen anderen Menschen bei der Arbeit zu. Über die Dabbawalas hatte ich schon viel gelesen und wollte sie jetzt endlich einmal live erleben. 200.000 Essen liefern sie in Mumbai wochentäglich aus – von Mamas Herd an Papas Arbeitstisch. Der anspruchsvolle indische Gatte möchte auch im Büro auf heimisches Essen nicht verzichten und so befüllt die treusorgende Ehefrau am Vormittag die Henkelmänner, hier Tiffinboxes genannt, mit Selbstgekochtem. Ein Dabbawala holt es ab und gibt es an seine Kollegen weiter, die es per Zug, mit dem Fahrrad und zu Fuß sicher durchs geschäftige Mumbai an den richtigen Ort bringen – mit einer sensationell hohen Trefferquote. Angeblich ein Fehler auf 16 Millionen Essenslieferungen – und das alles ohne Barcode oder GPS-Tracking, nur mit einem System aus farbigen Zahlen und Buchstaben. Na, Lufthansa, wollt ihr euch das nicht mal angucken? Dann hättet ihr bei Erics letztem Indienaufenthalt vielleicht nicht geschlagene fünf Tage gebraucht, um seinen Koffer von Stuttgart nach Delhi zu bringen.
Wir treffen vor dem Bahnhof Churchgate auf eine Gruppe Dabbawalas mit ihren weißen Mützen. Die Taschen voll köstlichen Essens werden auf Holzpaletten aus den Zügen gehievt, über die Straße gebracht, dort neu sortiert und dann entweder auf Fahrräder oder Karren verladen. Alles ganz unaufgeregt und routiniert, das System funktioniert schon seit hundert Jahren. Um kurz vor 12 ist der Gehweg wieder aufgeräumt und wir schwingen uns in den Zug.
Eine Viertelstunde später sind wir im Stadtteil Mahalakshmi angekommen. Neben dem Bahnhof und in einem weniger hübschen Wohngebiet wird eine gigantische Openair-Waschmaschine betrieben: ein Dobhi-Ghat. In unzähligen kleinen Steinbecken wird hier die Wäsche der Stadt gewaschen, per Hand und mit voller Muskelkraft. Es ist heiß und so haben die Wäscher ihre Arbeit zum größten Teil bereits getan. Auf unzähligen Leinen baumeln Hemden, Hosen und Leintücher, farblich sortiert in Reih und Glied. Schön ist es hier nicht, wir laufen Richtung Meer durch staubige Straßen, vorbei an slumähnlichen Hütten. Auf der rechten Seite tut sich ein großes Gelände auf, die Pferderennbahn von Mumbai, in die zu dieser Mittagszeit wettfreudige Herren strömen. Warum keinen „Day at the races“ denken wir uns und kaufen für 70 Cent ein Ticket. Das erste Rennen soll in einer halben Stunde starten, Zeit für ein Sandwich und ein kühles Getränk. Komisch nur, dass alle in dem großen Zelt vor der Rennbahn bleiben. Irgendwann dämmert es uns und wir verstehen jetzt auch, warum überall Plakate mit „Hyderabad Races“ hängen – die Hottehüs laufen nicht hier, sondern 700 Kilometer weiter südlich. Der Stimmung tut das aber keinen Abbruch, im Zelt brodelt es. Rundum stehen Wettbuden, vor denen minütlich die Quoten neu auf einer Tafel vermerkt werden – während der Budenchef angestrengt mit einem Fernglas die Zahlen der Konkurrenz beäugt. Auf einem großen Bildschirm werden die Pferde jetzt in die Startboxen geführt, ein Schuss und sie legen los. Die Menge hier in Mumbai geht mit, je näher das Ziel kommt, desto lauter wird gebrüllt. Ein Schimmel setzt sich schon früh ab und ich will auch mitmachen, also rufe ich laut „SCHIMMEL“ und er gewinnt doch tatsächlich. Hätte ich nur mal auf ihn gesetzt. Nach diesem ersten Rennen verlassen wir das Zelt und den Rennplatz – war lustig. Jetzt ab zu Haji Alis Obstbude, ein Tipp aus dem Reiseführer, hier soll’s die leckersten Fruchtsäfte geben. Die sind tatsächlich gut, ganz besonders köstlich ist aber der Zimtapfel mit Sahne, den wir dazu essen. Die schrumpligen Früchte hatten wir schon auf dem Markt gesehen, sie haben mit unserem Apfel wenig zu tun und passen gut zur cremigen Sahne, in der sie baden. Danach ein kurzer Besuch in der Haji Ali Moschee auf einem kleinen Inselchen vor der Küste – voll, nicht sonderlich schön und wohl nur für Gläubige wirklich interessant. Dafür haben wir aber mit den Festivitäten Glück, gerade läuft „Ganesh Chaturthi“, das elftägige Fest zu Ehren des elefantenköpfigen Gottes. Überall sind beleuchtete Zelte aufgebaut mit einer großen Ganesha-Figur, quietschbunt und meist von lauter Musik begleitet. Am Abend folgen wir dem Trommellärm in der Nähe unseres Hotels. Zwei Schlagzeuger sitzen auf einem Wagen, weitere Trommler und Tänzer davor, die Stimmung ist sehr ausgelassen, jung und alt tanzt. Irgendwann werden die Gottesstatuen im Meer versenkt, wann und wo genau das stattfindet, kriegen wir nicht raus, aber uns ist der trockene Ganesha eh lieber. Das war dann also Mumbai. Anders als andere indische Städte, nett für den Einstieg, aber zwei Tage reichen. Also auf zum Flughafen, Gujarats Hauptstadt Ahmedabad ist unser Ziel. Wir kommen gut durch mit dem Taxi, das Einchecken klappt auch problemlos, gelassen gehen wir durch die Sicherheitskontrollen, absolute Reiseprofis halt. Am Gate steht noch ein Flug nach Coimbatore angeschrieben, na, da haben wir ja noch reichlich Zeit, nur der Anfänger steht zu der auf dem Ticket angegebenen Zeit schon direkt am Gate. Ganz angenehm hier, es handelt sich um ein sogenanntes Silent Terminal, keine ständigen nervigen Durchsagen, der Flug nach Blablabla steht zum Einsteigen bereit, Mr Eric, dies ist ihr letzter Aufruf. Wir kaufen noch etwas zu essen und laufen dann wieder gemächlich zum Gate. Ahmedabad steht jetzt dran und dahinter „Gate closed“. Jetzt mal schnell hin, die Stewardess wird uns schon noch rein lassen. Ne, tut sie nicht. Kann sie auch gar nicht, denn unsere Koffer sind soeben aus dem Flugzeug wieder ausgeladen worden. Fünf Minuten zu spät. Ausrufen konnten sie uns nicht, ist ja ein „Silent Terminal“. Sie hätten uns ja gerne angerufen, aber wir hatten nur eine deutsche Nummer angegeben. Wir sind fassungslos, das kann doch nicht sein. Das ist uns noch nie passiert, noch nie nie nie. Wir sehen aber schnell ein, dass hier nichts zu machen ist und eindeutig wir Schuld sind. Wir Reiseprofis. „But we are foreigners“, versuche ich es in einem letzten Aufbäumen auf die Mitleidstour. Hilft natürlich nichts, die Stewardess begleitet uns aus dem Sicherheitsbereich heraus und zeigt uns, wo wir unsere Koffer wiederkriegen. Bedröppelt gehen wir zurück, stellen uns erneut an, schildern unser Problem und kaufen neue Tickets – für den Abendflug. Zum Glück gibt’s den überhaupt und zum Glück haben sie noch zwei Plätze. Ganz schön viel Glück – dabei werden wir noch einiges davon brauchen, bis wir endlich sicher in Ahmedabad ankommen…… To be continued
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