Eigentlich wollte ich ja nach Lettland. In Litauen bin ich nur gelandet, weil es diese praktische Fährverbindung gibt. Ein bisschen kurische Nehrung und dann weiter nach Riga. Dachte ich. Aber ich kann noch nicht weg hier, ich bin neugierig geworden auf dieses Land.
Die Entfernungen sind nicht groß und so beschließe ich, mir Kaunas anzuschauen. Litauens zweitgrößte Stadt, zeitweise sogar mal Hauptstadt. Ich nehme den Morgenbus in Pervalka, die Fähre wartet schon auf uns und um kurz nach neun stehe ich in Klaipeda. Der Spaziergang zum Busbahnhof zieht sich, aber dort angekommen, läuft alles professionell ab. Der Bus ist das öffentliche Verkehrsmittel in Litauen, reservieren nicht nötig, in die großen Städte kommt man alle halbe Stunde.
Eine zweistündige Fahrt später erreichen wir Kaunas. Zu Fuß in die Innenstadt sind es knappe 20 Minuten und je näher ich dem Zentrum komme, desto mehr Baustellen begegne ich. Was ist denn hier los? Kaunas 21?
Ne, Kaunas 22! Dann wird die Stadt nämlich europäische Kulturhauptstadt sein und ich nehme es schon mal voraus: das Jahr sollte man sich für eine Kaunas-Reise notieren.
Mein Hotel liegt in der breiten Fußgängerzone, die sicherlich sehr spektakulär ist, wenn die Sandberge und tiefen Löcher wieder verschwunden sind. Ein altes Haus mit einem beeindruckenden Treppenhaus und eine tolle Einstimmung auf die Stadt.
Kaunas vereint eine ganze Menge: Studentenstadt, historische Altstadt, elegante Neustadt, Park am wunderschönen Zusammenfluss von Neris und Memel. Was mich am meisten fasziniert, sind die Gebäude aus der kurzen Zeit, in der Kaunas Hauptstadt von Litauen war, zwischen 1920 und 1940. Zwischenkriegsmodernismus nennen sie es, ein bisschen Bauhaus, ein bisschen Art Deco. Teilweise bereits hervorragend restauriert, teilweise noch im Dornröschenschlaf. Aber das wird bis 2022! Das Nationalmuseum mit seinen ganz klaren Formen begeistert mich besonders. Schon aus architektonischen Gründen will ich es von innen sehen. Auf der einen Seite beherbergt es das Militärmuseum. Jetzt hält sich meine Begeisterung für Uniformen und Waffen ja sehr in Grenzen, aber eine kleine Einsicht in die litauische Befindlichkeit bietet es schon. Vytautas, litauischer Großfürst aus dem 14. Jahrhundert, ist der Nationalheld schlechthin, so populär, dass Vytautas auch heute noch einer der beliebtesten Vornamen für Jungen ist. Und dann die beiden Piloten Darius und Girėnas. Fast hätten sie in den 30er-Jahren den damals zweitlängsten Transatlantikflug geschafft, stürzten aber kurz vor ihrer Ankunft in Kaunas ab. Reicht aber in Litauen trotzdem für den Heldenstatus, das Wrack kann man im Museum besichtigen und welches Land kürt schon zwei Bruchpiloten zu ihren Stars?
Nach dem Militärmuseum kommt auch noch das Kunstmuseum dran, das auf der Rückseite des Gebäudes untergebracht ist. Und einem weiteren ganz wichtigen Helden huldigt, dem Maler und Komponisten Čiurlionis. Der Audioguide schwärmt von seiner Genialität, stellt ihn in eine Reihe mit Paul Klee und Kandinsky, ich finde leider wenig Zugang zu seinen Bildern. Aber schön, mal wieder ganz in Ruhe und konzentriert durch eine Ausstellung zu gehen.
Die Altstadt von Kaunas ist bei diesem herrlichen Wetter ein einziges großes Straßencafé. Ein komplett erhaltenes Ensemble hübscher kleiner Stadthäuser, Backsteinbauten und Kirchen, viele Studenten, entspannte Familien beim Sonntagsbummel, Touristen, Straßenmusiker – eine freundliche Mischung. Am Rande der Burg von Kaunas beginnt eine schöne Parkanlage, die sich bis hinunter zu den Flüssen zieht. Hier kann man’s aushalten. Das Jahr als europäische Kulturhauptstadt wird sicherlich großartig werden, die Stadt bietet so viel und vor allem so viel unterschiedliches.
Jetzt muss dann aber auch noch Vilnius drankommen. Also, anderthalb Stündchen Busfahrt und ich bin in Litauens Hauptstadt. Die war schon Kulturhauptstadt und strahlt in vollem Glanze. Unzählige Kirchen, eine große Altstadt mit kopfsteingepflasterten Gassen, das wiederaufgebaute Stadtschloss, wirklich viel zu sehen – aber nicht in der Leichtigkeit und Authentizität, die Kaunas ausstrahlt. Der Tourismus ist in Vilnius voll angekommen, vor allem asiatische Reisegruppen scheinen hier ihrem Traum vom alten Europa näher zu kommen. Selbst die Alternativszene ist bereits zur Sehenswürdigkeit geworden – die Künstlerkolonie Uzupis, die in den 90er-Jahren in ihrem Stadtteil ihre eigene Republik ausrief, deren Botschafter unter anderem der Dalai Lama ist, erscheint mir voll gentrifiziert – stylische Wohnungen und schicke Restaurants säumen die Straßen. Ihre Verfassung, die in 23 Übersetzungen an einer Mauer hängt, ist ein beliebtes Photomotiv für Touristen. Artikel 1 lautet „Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen“ und auch die restlichen 40 Artikel sind lesenswert.
Was ich nicht vergessen werde, ist eine virtuelle Reise durch die Zeit. Das großfürstliche Schloss wurde Ende des 19. Jahrhunderts zerstört und als Museum wieder neu aufgebaut. Gespart haben sie dabei an nichts, zwar nicht echt, aber museumspädagogisch hervorragend. Hätte ich mir alles angeschaut und durchgelesen, wüsste ich jetzt auch alles über die litauische Geschichte. Stattdessen habe ich mir eine 3D-Brille aufgesetzt und gesehen, wie das Schloss über die Jahrhunderte gebaut und dann zerstört wurde. So toll gemacht! Mein erstes richtiges 3D-Erlebnis. Die freundliche Museumsdame tippt mir kurz auf die Schulter, es gebe auch zwei Griffe, an denen man sich festhalten kann – gerade rechtzeitig. Denn ich stehe auf dem Schlossturm und blicke viele Meter tief hinunter, der Turm wächst sogar noch an, ich schaue nach links Richtung Fluss, drehe mich vorsichtig um, immer eine Hand an einem der Griffe. Echt ein klasse Erlebnis, dieser 3D-Ritt durch die Schlossgeschichte. Allein dafür lohnt sich das Museum!
In der wunderschönen Universitätsbuchhandlung kaufe ich mir später ein litauisches Kochbuch, jetzt kommen Rote Bete, saure Sahne und Dill auf den Speiseplan!
Alles in allem: Vilnius ist schön, keine Frage. Aber Kaunas ist spannend und bleibt es hoffentlich auch noch lange. Ich glaube, ich werde es für 2022 noch mal auf meine Reiseliste setzen. Kommt jemand mit?
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